„Euthanasie ist eine Lösung“ stand auf dem Stein, mit dem in der Nacht zum 27. Mai ein Wohnhaus der Lebenshilfe in Mönchengladbach angegriffen wurde. Bei einer Solidaritätsveranstaltung standen Hunderte Besucher den Menschen mit Behinderung zur Seite. Aber reicht das? Nach den Ergebnissen der Europawahlen ist klar, dass Rechtsextreme an Kraft gewinnen.
Am Tag nach der Wahl klingt die Stimme von Özgür Kalkan geschockt und ernüchtert. „Es erschreckt mich, dass die AFD nach der Europawahl in Deutschland an zweiter Stelle steht“, sagt der Geschäftsführer der Lebenshilfe in Mönchengladbach. Am Donnerstagabend vor dem Wahlsonntag war er noch guten Mutes. In der evangelischen Hauptkirche in Rheydt saßen 850 Menschen, und auch auf dem Marktplatz vor der Kirche waren Hunderte zusammengekommen, um ihre Solidarität mit den Menschen mit Behinderung auszudrücken.
Mit einem Ziegelstein hatten Täter in der Nacht zum 27. Mai deutlich gemacht, wie sehr sich die Grenzen des Sag- und Machbaren in Deutschland inzwischen verschoben haben. „Euthanasie ist eine Lösung“ stand auf dem Stein, der in die Tür zu einer Wohnstätte der Lebenshilfe in Mönchengladbach-Giesenkirchen geworfen wurde. „Bei der Kundgebung waren viele Menschen mit und ohne Behinderung, die Angst haben und die die Versicherung brauchten, dass man sie schützen kann“, sagt Kalkan. Doch wie sieht es jetzt aus?
Schon zu Beginn des Jahres gab es in Mönchengladbach wie in vielen anderen Städten Deutschlands Demonstrationen gegen rechts. Auslöser waren damals die Enthüllungen des Recherche-Netzwerks Collectiv über geheime Treffen von Rechtsextremisten und deren Deportationsfantasien. „Nie wieder ist jetzt“ war eine der Parolen, die auf den Schildern der Demonstranten zu lesen waren. Und auch das Grundgesetz, Artikel 1 „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ wurde bei den Demonstrationen vielfach zitiert.
Bei der Solidaritätskundgebung, zu der die Verbände und Organisationen der freien Wohlfahrtspflege, die Stadt, soziale Einrichtungen, Stadtgesellschaften, Parteien und die Kirchen aufgerufen hatten, standen sie ebenfalls auf den Plakaten. Dazu kam eines mit dem zweiten Satz aus Artikel 3, Absatz 3 des Grundgesetzes: „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
„Wer auf einen Stein schreibt ‚Euthanasie ist eine Lösung‘ ist niemand, der sich über etwas geärgert hat“, sagte Ulla Schmidt, Bundesvorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe und frühere Bundesgesundheitsministerin. „Als ich Kind war, sah man keine Menschen mit Behinderung. Sie waren entweder umgebracht worden, für medizinische Versuche missbraucht worden oder wurden von ihren Eltern versteckt.“
Schmidt gehörte zu einer ganzen Reihe prominenter Rednerinnen und Redner der Solidaritätskundgebung. Neben Oberbürgermeister Felix Heinrichs waren auch NRW-Minister Franz-Josef Laumann und Jürgen Dusel (Bundesbeauftragter für die Belange von Menschen mit Behinderungen) unter den Rednern. Von Bundessozialminister Hubertus Heil (SPD) sowie den Bundestagsabgeordneten Gülistan Yüksel (SPD) und Günter Krings (CDU) wurden Briefe verlesen. „Ich kenne selbst die Angst, wenn man sich an Leib und Leben bedroht fühlt“, schrieb Yüksel. „Wenn man sich an seinem Arbeitsplatz nicht sicher fühlt.“ Und Franz-Josef Laumann betonte: „Der größte Schutzpatron für Menschen mit Behinderung ist die Demokratie. In demokratischen Staaten geht es den Menschen gut.“
Er sei froh über die vielen Solidaritätskundgebungen aus der Stadt und aus ganz Deutschland gewesen, sagt Özgür Kalkan. Nach den Wahlen ist er ernüchtert. Aber was kann man tun? „Wir müssen lauter werden“, sagt Kalkan. „Als Selbsthilfevereinigung waren wir bisher politisch neutral. Aber ich glaube, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, politisch deutlicher zu werden, um dem Rechtsruck und dem Rechtsdruck entgegen zu wirken.“ Das gelte auch für die Politik und Kirchen.
„Der Wahlerfolg der AFD hat verschiedene Väter“, sagt Regionaldekan Ulrich Clancett. „Einer heißt Tiktok. Es ist schockierend, dass die junge Wählerschaft die Partei gewählt hat. Wir müssen irgendwie versuchen, da einen Fuß in die Tür zu kriegen.“ Die rechten Parteien böten einfache Antworten auf komplizierte Zusammenhänge. „Da gilt: Was nicht in 90 Sekunden erklärt werden kann, ist nicht wahr“, beobachtet Clancett.
Wie kann Kirche da Einfluss nehmen? „Ich glaube, nur wenn wir das vor Ort leben und den Menschen zeigen, dass sie wahrgenommen werden“, sagt Clancett. Denn die Kirche habe ein Problem: „Mit den demokratischen Verhältnissen ist es bei uns ja auch nicht so weit her. Wir werden als die gesehen, die Frauen unterdrücken und von Ämtern ausschließen, in deren Reihen es den Missbrauch gibt und die Priestern eine Partnerschaft verbieten.“ Dazu komme, dass politische Bildung kaum noch stattfinde.
Umso mehr schätzt Clancett, dass zu der Solidaritätskundgebung so viele Menschen zusammengekommen sind. „Das ist ein grandioses Zeichen der Stadtgesellschaft“, sagt der Regionalvikar. „Wir lassen uns hier nicht unterkriegen.“
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