Ralf Versen steht am Hauptportal der Kirche St. Dionysius in Krefeld. Es ist kurz vor halb zwölf, gleich beginnt der Sonntagsgottesdienst. Jeden Besucher begrüßt er freundlich, wünscht einen schönen Tag und hält dabei die Hand auf. Für den 62-Jährigen gehört der sonntägliche Bettelgang zu seiner Wochenroutine: Er ist die Garantie für den nächsten Schuss, die Garantie für einen Sonntag ohne Sorgen, die Garantie für die „weiche Wolke“, wie Versen seinen Rausch beschreibt.
Es ist aber vor allem die Notwendigkeit, sich das Gift zu besorgen, das seit 40 Jahren sein Leben bestimmt. Aber nicht nur deswegen ist Versen hier, sondern auch, um eine Kerze anzuzünden und für seine Familie zu beten. Auch das gehört zu seiner Routine: Er sitzt schon früh in den Bänken der Citykirche und bittet für seine zwei Söhne und für den Weltfrieden. Denn das, was er täglich auf der Straße sieht, sagt er, lässt ihn abseits der weichen Wolke tief fallen. „Gott ist gut“, ist er sich sicher. „Er hat mich immer schon begleitet.“ Ralf Versen ist einer von vielen, für die St. Dionysius alias „die Citykirche“ zum Zufluchtsort geworden ist.
Werden auf der Straße Menschen, die nicht ins typische Erscheinungsbild passen, mit ablehnenden Blicken und Vorurteilen gestraft, empfängt am Dionysiusplatz ein Seelsorger Hilfesuchende ohne Vorurteile, mit Offenheit und Toleranz. „Gottes Botschaft ist eindeutig. Jeder Mensch ist nicht nur Abbild Gottes, sondern der Glaube ist auch immer eine Option für die Armen“, erklärt Ulrich Hagens von der Citykirche. „Dafür sind wir da.“ In Krefeld ist die Armut offensichtlich: Tagsüber betteln Menschen auf der Straße, schon frühmorgens ist der Platz vor dem Seidenweberhaus, der Veranstaltungshalle der Stadt, Treffpunkt für diejenigen, die sich im Leben nur schwer zurechtfinden. Und wenn am Samstag die Citykirche unter dem eindringlichen Bibelzitat „Gebt ihr ihnen zu essen!“ (Mk 9,13) ihre Tore zum „täglichen Brot“ öffnet, steht eine Menschenschlange auf dem Kirchplatz und wartet auf Einlass.
Mit dem „täglichen Brot“ hat die Citykirche eine Institution geschaffen, zu der wöchentlich bis zu 200 Menschen erscheinen. Seit zwölf Jahren in kirchlicher Hand und seit 2012 in der Dionysiuskirche auch räumlich ansässig, werden jeden Samstag für einen Euro Aufwandsentschädigung Lebensmittel verteilt. Um die Hilfsbedürftigkeit zu garantieren, müssen die Erwachsenen vorab ihre Bedürftigkeit nachweisen. „Inzwischen sind mehr als 420 Menschen registriert“, erklärt der Cityseelsorger. „Es gibt Armut in Deutschland, davor dürfen wir die Augen nicht verschließen.“ Immer wieder kommt es in diesem Prozess auch vor, dass Hagens Vorurteilen begegnet. Denn in den Bänken sitzt nicht nur der gutbürgerliche Krefelder, sondern vielleicht auch ein Obdachloser, ein Kranker oder jemand, der vor Trauer weint. „Da geht es sicherlich nicht immer christlich zu, aber das muss es auch nicht. Denn wir als Kirche sind für alle da“, beschreibt Hagens. Auch die Citykirche hat mir Vorurteilen zu kämpfen. „Das ist schade“, betont der Krefelder. „Denn jeder Mensch, der hierherkommt, hat eine Geschichte.“
Ralf Versens Geschichte beginnt vor 62 Jahren. In Willich wächst er auf und absolviert eine Lehre zum technischen Zeichner. Sein Leben als junger Mann ist nicht leicht, die Eltern streiten sich häufig, sein Vater ist wenig zu Hause. „Mir hat die Liebe gefehlt“, beschreibt Versens.
Nach seiner Ausbildung wird er zur Bundeswehr eingezogen. Hier gerät er zum ersten Mal mit Haschisch in Kontakt. Im Jahr 1977 verändert eine Reise nach Nepal seinen gewohnten Kreislauf. „Da war einer, der hat mich gefragt, ob ich Heroin kenne“, erinnert er sich. „Da war mein Interesse geweckt.“ Der junge Mann schnupft das bräunliche Pulver und fühlt sich wie in einer anderen Welt. „Alles war auf einmal in Ordnung, mein Leben war rosarot“, sagt er. „Da war all die Liebe, nach der ich mich gesehnt hab.“ Auch in Deutschland bleibt der Familienvater am Gift hängen, aber erst ein Unfall 20 Jahre später bringt sein Leben durcheinander: Eine Frau fällt vom Fahrrad. Obwohl sein Auto, wie Versen sagt, keinen Kontakt mit ihr hatte, wird er angeklagt.
Zehn Monate lässt das Verfahren auf sich warten, und die Polizei entzieht ihm in dieser Zeit den Führerschein. Der junge Mann verliert seinen Job, damit auch sein Gehalt und die Möglichkeit, seine Sucht zu finanzieren. Am Ende wird er freigesprochen, sein Leben bekommt er aber nicht mehr gerichtet. Die Folge: Scheidung, finanzielle Not, Wohnungslosigkeit, Gefängnis, Armut. Auch Hagens kennt den Kreislauf. Als Cityseelsorger begegnen ihm im Angebot „das offene Ohr“ fast täglich Menschen wie der Heroinabhängige. Kleine Zuschüsse in Notsituationen für zum Beispiel Lebensmittel kann er ihnen durch die Unterstützung des Bistums gewährleisten, bei großen finanziellen Anliegen sind auch ihm die Hände gebunden. „Gestern war eine Frau hier, die mir eine schwere Erkrankung vorweisen konnte. Sie benötigt 5000 Euro für eine Therapie, hat aber keinen Pfennig“, sagt er. „Ich kann ihr nur zuhören, sie an offizielle Hilfestellen verweisen und ihr mein offenes Ohr anbieten.“
Manchmal nutzen Menschen auch die kirchlichen Räume, um mit Gottesfragen zur Citypastoral zu kommen. Als Theologe steht Hagens auch dann in seinem Büro in der Dionysiuskirche bereit. Bei Glaubensfragen braucht Versens keine Unterstützung. Er weiß, wo er hingehört. Auch wenn der Rausch nachlässt und das Heroin nicht greifbar ist und er beginnt nachzudenken: Darüber, was er seiner Familie angetan hat. Darüber, was er hätte besser machen können, und darüber, ob es das alles wert war – auch dann ist er sicher, dass am Sonntag beim Kerze-Anzünden und im Gebet jemand für ihn da ist, der ihm zuhört. „Gott liebt jeden Menschen“, sagt er. „Gott ist für jeden da.“