Mit Kindern die in ihrer Dimension einzigartige Große Messe in c-Moll von Mozart einstudieren – in nur wenigen Wochen. Wie das gelingen kann und warum die Oktobermusik für ihn eine ehrenvolle Verpflichtung ist, erklärt Domkapellmeister Berthold Botzet im Interview.
Vor 80 Jahren, im Oktober 1944, wurde Aachen als erste deutsche Großstadt von alliierten Truppen befreit. Bereits ein Jahr später „erfand“ der damalige Domkapellmeister Theodor Bernhard Rehmann die sogenannte Oktobermusik. Mit diesem Konzertformat werden seitdem die Dankbarkeit für die Befreiung und die Erinnerung an die Schrecken des Krieges wachgehalten. Wie oft haben Sie die Oktobermusik inzwischen gestaltet?
Botzet: Es wird mein 25. Konzert in dieser Reihe – und mein letztes. Tatsächlich gab es nur eine einzige Unterbrechung. Das war 1963, wenige Tage zuvor war Rehmann verstorben. Sogar während der Pandemie haben wir in Kooperation mit dem Sinfonieorchester der Stadt Aachen eine Aufführung hinbekommen, allerdings in stark reduzierter Besetzung, mit ganz wenig Publikum und verteilt auf zwei Termine. Darauf bin ich stolz, denn ich verstehe das Gedenkkonzert als Verpflichtung, die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg wachzuhalten und jüngere Generationen wieder dafür zu sensibilisieren, dass heute – mehr denn je – alles dafür getan werden muss, um den Frieden zu erhalten.
Auf dem Programm steht die Große Messe in c-Moll von Mozart. Warum haben Sie sich für dieses Werk entschieden, das nur fragmentarisch erhalten ist?
Botzet: In Länge, Besetzung und Geschick überragt diese Messvertonung alle anderen geistlichen Werke Mozarts und verblüfft mit einer ungeheuren Stilvielfalt. Hier kommen große Koloraturen, riesige Melodiesprünge und viele doppelchörige Passagen zum Tragen. Die Messe ist mit der Aura des Unvollendeten und Mysteriösen behaftet, da große Teile des Credo und das ganze Agnus Dei fehlen. Zudem sind Teile von Mozarts Originalhandschrift früh verloren gegangen. Im Jahr 2016 erschien im Carus-Verlag eine neue Edition der Mozart-Messe. Sie versucht, mit größtem Respekt vor dem vorhan-
denen Material die Aufführung zu ermöglichen, ohne Mozarts musikalische Handschrift durch eigenes Zutun zu überdecken.
Steckt nicht auch eine Liebesgeschichte hinter dieser Komposition?
Botzet: Ja, davon ist auszugehen. Zwar sind die Umstände der Entstehung und die Gründe für den Abbruch der Komposition ebenso wie viele Details zur Erstaufführung im Oktober 1783 ungeklärt, aber die Messe entstand nach dem Wechsel Mozarts von Salzburg nach Wien und gilt als Zeugnis für seine Liebe zu Constanze Weber. Er hatte sie gegen den Willen seines Vaters geheiratet. Tagebuchaufzeichnungen seiner Schwester Anna Maria geben Aufschluss darüber, dass Mozart die Sopransoli extra für Constanze geschrieben hat, die eine talentierte Sängerin war und mit deren Talent er seinen Vater bei dessen Besuch in Wien beeindrucken wollte.
Für das Konzert haben Sie namhafte Solistinnen und Solisten verpflichtet; außer-
dem wirkt traditionsgemäß das städtische Sinfonieorchester mit. Immer wieder faszinierend für das Publikum ist jedoch insbesondere die Leistung der Knaben des Domchores. Wie lange dauert es, ein solches Werk mit Kindern einzustudieren?
Botzet: Tatsächlich haben wir aufgrund unserer Aufführungsdichte im Jahreszyklus und aufgrund unserer liturgischen Dienste im Dom immer nur wenige Wochen Zeit für die Einstudierung des Programms. Ganz wichtig ist in diesem Zusammenhang unsere zweiwöchige Ferienfreizeit auf Wangerooge im Sommer. Dort erarbeiten wir immer die Grundlagen für die Oktobermusik. Hinterher muss ich das Gefühl haben, dass wir auf einem guten Weg sind, um die restlichen Wochen bei intensiver Probenarbeit zu einer guten Leistung kommen zu können.
Haben Sie denn in diesem Jahr ein gutes Gefühl?
Botzet: Absolut! Nachdem unsere Probenarbeit, das Stimmtraining und die Aufführungspraxis durch die Pandemie fast anderthalb Jahre unterbrochen waren, hat es eine Weile gedauert, um das Versäumte aufzuholen. Die Jungen haben in dieser Phase keinen richtigen Umgang mit ihrer Gesangsstimme erlernen können, das merkt man bei den betreffenden Sängern auch jetzt manchmal noch. Aber aktuell sind die Knaben auf einem Niveau, auf das ich sehr stolz bin. Die erwachsenen Herren sind sowieso sehr erfahren und bilden einen stabilen Stamm. Sie können ihre Leistung und ihr Repertoire weitgehend mühelos abrufen. Hier bildet die Oktobermusik tatsächlich die große Ausnahme, denn hierfür studieren wir jedes Jahr neue Werke ein. Ich hoffe also, dass jetzt im September nicht zu viele Herren noch in den Urlaub fahren ...
Als zweites, kleineres Werk haben Sie das „Te Deum“ von Norbert Richtsteig ausgewählt, dem früheren Domorganisten am Aachener Dom. Wie kam es dazu?
Botzet: Als Kirchenmusikdirektor Norbert Richtsteig 2013 in den Ruhestand ging, schenkte er dem Domchor zum Abschied seine Komposition „Te Deum laudamus“, eine Vertonung des ambrosianischen Lobgesangs für sechsstimmigen Chor und Orgel. Dieser Lobgesang aus dem 4. Jahrhundert wird in der Kirche bei großen Dankgottesdiensten angestimmt, bei uns im Dom zum Beispiel als Jahresdank am Silvesterabend. Als Richtsteigs Vertonung 2019 zuletzt erklang, bat ich ihn, seine virtuose Orgelbegleitung auch für großes Sinfonieorchester umzuarbeiten. Diesem Wunsch kam er, obwohl bereits schwer erkrankt, gerne nach. Bis zur fertigen Orchesterpartitur brauchte Richtsteig nur wenige Wochen. Die geplante Aufführung im Oktober 2020 fiel wegen der Pandemie aus, wenige Monate später starb er. In meinem letzten Jahr als Domkapellmeister war es mir daher ein persönliches Anliegen, Norbert Richtsteigs zu gedenken und seine herausragenden Leistungen für die Aachener Dommusik zu würdigen.
Sie haben es gerade angesprochen: Auch Sie werden bald in den Ruhestand gehen. Ist es noch zu früh, um nach einem Fazit zu fragen?
Botzet: Gefühlt schon, denn bis 1. Februar 2025 bin ich noch genauso stark eingespannt wie bisher auch und werde wahrscheinlich erst danach Zeit haben, um
darüber nachzudenken, wie sich das anfühlt, nach 25 Jahren den Taktstock niederzulegen. Es gab natürlich viele Höhen und Tiefen, spannende Reisen und Konzerte, darunter zwei Papst-Begegnungen im Rahmen der Karlspreisverleihungen und ungewohnt umjubelte Konzertauftritte in Südafrika und Südkorea. Die Anfangszeit zu Beginn der 2000er Jahre fand ich rückblickend schwierig, aber in den letzten zehn, zwölf Jahren ist so manches vorkonziliare Festhalten an gewohnten Strukturen liberaleren Ansichten gewichen und hat Raum geschaffen für neue Möglichkeiten. Die Gründung des Mädchenchors am Aachener Dom war ein wichtiger Meilenstein. Insbesondere waren es aber viele menschliche Begegnungen, die ich als ungeheuer bereichernd und wertvoll empfunden habe. Aber all das wäre eigentlich Thema für ein weiteres Interview …