Die AfD ist eine Partei, die vom Verfassungsschutz als in Teilen gesichert rechtsextrem eingestuft wird und gleichzeitig Zustrom von vielen Wählerinnen und Wählern erhält. Warum ist das so? Was lässt die Menschen glauben, das Programm der AfD führe sie in eine bessere Zukunft? Und wie können zumindest Teile dieser Menschen wieder für Demokratie begeistert werden? Diesen Fragen geht die Journalistin Sally Lisa Starken in ihrem neuen Buch „Zu Besuch am rechten Rand“ und im Interview mit der KirchenZeitung nach.
Über die AfD reden tun viele. Aber mit ihr?! Wie sind Sie auf die Idee gekommen, für Ihr neues Buch sozusagen das Gespräch mit der Parteibasis zu suchen?
Sally Lisa Starken: Ich habe als Journalistin zwar selbst viel über die AfD berichtet und aufgeklärt und immer wieder probiert, Argumente gegen die Rhetorik anzuführen und dagegen zu halten. Aber mir fehlte ein ganz wichtiges Puzzleteil: Ich habe nicht mit den Menschen gesprochen, die die AfD wählen. Um dem eigentlichen Problem auf den Grund zu gehen, ist es wichtig zu verstehen, was die individuellen Beweggründe und Lebensrealitäten der Menschen sind. Das macht einen Unterschied. Es wird in der Diskussion über die AfD und die Wählerschaft dieser Partei viel pauschalisiert, aber das führt uns nirgendwo hin und zeigt uns keine Wege auf, wie wir einen Teil der Menschen wieder für die Demokratie begeistern können.
Wie haben Sie die Gesprächspartnerinnen und -partner für Ihr Buchprojekt ausgewählt?
Sally Lisa Starken: Mir war wichtig herauszufinden, was in unserer Gesellschaft passiert, welche Ängste und Überforderung es gibt. Die Themen sind ja äußerst komplex und vielschichtig, von der Angst vor dem sozialen Abstieg bis zur Angst vor Krieg. Ausgeschlossen habe ich Vertreterinnen und Vertreter aus rechtsextremen Kreisen.
Wie sieht der holzschnittartige AfD-Wähler aus, der in Diskussionen gerne angeführt wird?
Sally Lisa Starken: Es gibt mehrere Versionen. Weit verbreitet ist die Unterstellung, dass alle Rechtsextreme sind. Ich würde viele Menschen, die Sorgen und Unsicherheiten haben, nicht per se als Rechtsextreme bezeichnen. Diese Pauschalisierung verkennt, dass es ganz viele unterschiedliche Lebensrealitäten gibt. Während der Recherche für mein Buch habe ich im Umfeld der AfD eine Frau kennengelernt, die so alt ist wie ich. Ich hätte sie sein können. Wir hatten gleiche Voraussetzungen, sind aber unterschiedlich aufgewachsen, haben unterschiedliche Antworten auf Fragen gefunden, die uns beschäftigen. Das hat mich sehr bewegt, wie diese rechte Rhetorik verfangen kann.
Geht eine Politik im Stil von beispielsweise Friedrich Merz an der Lebenswirklichkeit der meisten Menschen vorbei?
Sally Lisa Starken: Friedrich Merz denkt, dass er alle Menschen zurückbekommen kann, die die AfD wählen oder wählen wollen, wenn er die Migrationsfrage klärt. Die Lösung dieser Frage ist also die Lösung all unserer Probleme für ihn – und er sieht sich selbst unverändert als Brandmauer. Ich glaube, er hat die falsche Taktik gewählt. Wenn demokratische Kräfte glauben, ein Aufgreifen der Migrationsfrage wäre das beste Mittel gegen die AfD, lassen sie sich von den Rechtspopulisten treiben, springen sie aus Angst vor dem drohenden Machtverlust über jedes Stöckchen der AfD. Dabei wäre es Zeit für eigene Inhalte, eigene Lösungen. All das, was Menschen wirklich bewegt und was ihr Leben zum Positiven verändern könnte.
Welche Themen hätten Sie in diesem Wahlkampf in den Vordergrund gestellt?
Sally Lisa Starken: Wir reden nicht über Bildung, oder darüber, wie Menschen in einem guten Leben altern könnten, wie unsere Zukunft aussehen könnte. All das wird ausgeklammert und von der Migrationsfrage überlagert. Nachdem in Berlin die Koalition geplatzt ist, wurde zunächst ein großer Wirtschaftswahlkampf angekündigt. Das wäre so ein Thema gewesen, dann hätten Inhalte vorne gestanden. Der Wahlkampf lief nun genau in die falsche Richtung. Ich sehe das als großes Problem.
Wenn die AfD die anderen Parteien mit dem Thema Migration vor sich hertreibt – warum sollte dann jemand die Kopie anstatt des Originals wählen?
Sally Lisa Starken: Wir erleben eine ständige Konfrontation mit Krisen, viele Menschen fühlen sich überfordert, suchen nach den richtigen Antworten. Das größte Problem ist, dass wir nur über Migration streiten. Dabei müsste es um echte Zukunftsvisionen gehen, die wir jetzt dringend bräuchten. Ansätze dazu finden sich bei vielen Parteien, nur kennt sie keiner, sie sind in den Wahlprogrammen versteckt. Stattdessen reden Olaf Scholz und Friedrich Merz im Kanzlerduell 25 Minuten über Migration, und ich weiß gar nicht mehr, wie oft ich das Wort Abschiebung gehört habe. Wenn demokratische Kräfte diese Lücke bei den Erwartungen der Menschen nicht erkennen, wird sie von einer rechtsgerichteten Partei geschlossen.
In Ihrem Podcast haben Sie den eher jüngeren Zuhörerinnen und Zuhörern einmal erklärt, dass Kommunalpolitik mehr ist als die Politik „alter weißer Männer“. Jetzt habe ich das Kanzlerduell vor Augen …
Sally Lisa Starken: In der Politik sollte die Lebensrealität der Menschen abgebildet werden, der Bundestag sollte repräsentativ für die Gesellschaft sein.
Ist der Bundestag repräsentativ?
Sally Lisa Starken: Es gibt zu wenig Menschen mit Migrationshintergrund, zu wenig Menschen mit Behinderung, zu wenig Frauen … Das sind alles Themen und Sichtweisen, die eine repräsentative Politik braucht. Die Parteien müssten sich selbst einmal an die Nase fassen und fragen, wie sie an den Nachwuchs rankommen, an die Menschen mit Migrationshintergrund. An den aktuellen Diskussionen lässt sich erkennen, dass es zu oft um Machtkonstruktionen geht. Politiker brauchen Aufmerksamkeit, um Änderungen zu bewirken. Diese Machtkonstruktionen können aber auch dazu führen, dass Themen, die inhaltlich wichtig sind, nicht die entsprechende Bedeutung erhalten.
Warum schafft es die AfD offenbar so gut, junge Menschen zu erreichen?
Sally Lisa Starken: Sie haben es einfach verstanden, wie sie junge Menschen erreichen können. Sie wissen, wie Social Media funktioniert, sie haben den Algorithmus dahinter verinnerlicht. Und die AfD befolgt das Trump-Playbook. Reden beispielsweise werden so geschrieben, dass man sie direkt auf TikTok hochladen kann. Die AfD nimmt viel Geld in die Hand, auch für Schulungen. Passende Schlagzeilen werden geschickt aufgegriffen, jede Botschaft ist so gestrickt, dass sie im Kopf bleibt. Die AfD hatte bisher ein einfaches Spiel. Man sieht in diesem Wahlkampf aber auch, dass andere Parteien anfangen, etwas dagegenzusetzen.
Wie sieht denn das ideale AfD-Drehbuch für Social Media aus – und welche Rolle spielen Fakten dabei noch?
Sally Lisa Starken: Das Drehbuch hat Trump ja nicht erfunden, es kommt aus den rechtsextremen Strömungen. Zur Vorgehensweise gehört es, sich selbst als Opfer zu stilisieren, Wörter wie „Remigration“ umzudeuten, damit zu einer Normalisierung beizutragen und bewusst Schockmomente zu produzieren, auf die man dann antworten kann: „Da habt ihr uns aber falsch verstanden!“ Wurde vor einem Jahr das Wort „Remigration“ benutzt, waren alle schockiert. Heute ist es fast normaler Sprachgebrauch. Alles, was die AfD sagt oder postet, geschieht aus Kalkül. Für die AfD spielen Fakten insoweit eine Rolle, dass sie sich überlegt, wie man daraus wie im Beispiel Aschaffenburg die „bessere“ Geschichte machen kann. Es ist nicht einfach, diese Botschaften wieder zu entzaubern. Sobald die Medien darüber berichten, bleiben diese Bilder im Kopf. Das beherrschen nicht nur Trump und Musk, auch die AfD ist eine Meisterin darin.
Was hilft? Ignorieren?
Sally Lisa Starken: Ignorieren hilft auf keinen Fall. Wir sollten neue Erzählungen dagegensetzen. Aber keine, die die Menschen ausschließen. Viele Wählerinnen und Wähler der AfD sehen sich als der Mitte zugehörig an. Kamala Harris hat in den USA probiert, die Kultur des Wahlkampfes zu verändern, den Menschen Mut zu spenden und Hoffnung zu wecken. Robert Habeck versucht bei uns, diese Art von Wahlkampf zu führen. Seine Botschaften sind Zuversicht, Hoffnung und Zusammenhalt. Diese Schlagworte mit Inhalten füllen ist sehr viel Arbeit. Das wird nicht in einem Wahlkampf zu schaffen sein, könnte aber ein guter Weg sein.
Wie sollten wir mit Hetze und Desinformation umgehen?
Sally Lisa Starken: Aufklären! Auch wenn es schwierig ist. Menschen, die Fake News verbreiten, sollten wir keine Plattformen bieten. Wir brauchen beispielsweise bei Fernsehduellen einen Live-Faktencheck. Kein Mensch schaut sich nach der Sendung noch den Faktenfinder an. Auch in den Sozialen Medien ist das Überprüfen von Fakten wichtig. Wir müssen Menschen besser beibringen, wie man mit den Informationen umgeht, wie man Fake News erkennt, sich eine eigene Meinung bildet und Behauptungen analysiert. Wir müssen demokratiefeindlichen Kräften etwas entgegensetzen. Es ist so schön einfach, was die AfD macht. Es bedarf viel mehr Mühe, Fake News zu entzaubern. Aber diese Mühe müssen wir aufwenden.
Was können wir rechtsextremen Narrativen im Alltag entgegensetzen?
Sally Lisa Starken: Politik ist die eine Seite der Medaille, Gesellschaft die andere. Was ich am meisten gemerkt habe ist, dass Menschen nur dann zugänglich sind, wenn man eine emotionale Ebene zu ihnen hat. Wenn ihnen jemand in einer zufälligen Situation eine rechtspopulistische Weltsicht eröffnet, könnte es schwierig sein, an diesen Menschen heranzukommen. Es geht eher um nahe Beziehungen. Wie kann man mit Menschen umgehen, die man eigentlich mag, die aber die AfD wählen? Menschen, zu denen wir in emotionalen Beziehungen stehen, können wir eher erreichen, sie hören vielleicht noch zu. Wir sollten mit ihnen reden und sie nicht abweisen. Dabei sollte man seine eigene rote Linie ziehen, wir müssen nicht jede Diskussion bis zum Ende führen, sollten aber keiner Diskussion aus dem Weg gehen. Es ist zudem ein Fehlschluss, wenn man denkt, dass man Menschen allein mit Fakten überzeugen kann. Die Gründe, warum die meisten Menschen aus rechtsextremen Kreisen ausgestiegen sind, waren emotionale Bindungen zu anderen Menschen. Das AfD-Verbot ist eine richtige Forderung. Aber wir müssen uns auch Gedanken darüber machen, wie wir die Menschen erreichen, die nach einem Verbot nicht einfach ihre Meinung ändern.
Können Sie vor diesem Hintergrund optimistisch bleiben?
Sally Lisa Starken: Ganz viel! Die Mehrheit der Menschen ist demokratisch, das zeigt sich bei den Demos. Sehr viele Menschen kämpfen für die Demokratie und setzen sich dafür ein. Wir sind nicht unbeteiligt; jede Stimme zählt. Darauf können wir aufbauen, wir dürfen uns nur nicht von rechtsextremen Kräften spalten lassen. Mein größter Wunsch ist, dass sich die Menschen mit den Geschichten ihrer Mitmenschen beschäftigen, einen anderen Zugang erlernen. Nur so können wir verstehen, warum ganz unterschiedliche Menschen die AfD wählen.
Sally Lisa Starken ist Journalistin, Podcasterin, Moderatorin und Autorin. In den Sozialen Medien erklärt sie gerade einer jüngeren Zielgruppe Politik und leistet politische Aufklärungsarbeit. Ihr neues Buch „Zu Besuch am rechten Rand. Warum Menschen AfD wählen“ (ISBN: 978-3-453-60705-7, 288 Seiten, 16 Euro) ist am 19. Februar im HEYNE-Verlag erschienen. Die 34-Jährige hat mit Menschen gesprochen, die die AfD wählen. Sie fragt, wie die Lebensgeschichte dieser Menschen aussieht und wo genau die demokratischen Kräfte den Anschluss verloren haben. „Nur wenn wir wieder miteinander reden, aus diesen Begegnungen etwas mitnehmen und sich weniger Menschen von der Politik abgehängt und ungesehen fühlen, können wir unsere Demokratie noch retten“, sagt sie.
Mehr Infos zu all ihren Projekten gibt es hier: www.sallylisa-starken.de