Frisch den Schulabschluss in der Tasche, gerade das Erststudium abgebrochen oder nach einem Jahr voller Praktika weiterhin ziellos unterwegs: Nicht immer ist die Entscheidung leicht, wie der berufliche und persönliche Weg weitergehen soll. Die „Visionauten“ kennen diese Situation. Vor fast einem Jahr haben sie sich im Bistum Aachen entschieden, auf ihre Fragen Antworten zu finden: Seitdem leben sie in den Visionauten-Wohngemeinschaften (WG) in Aachen und Krefeld zusammen. Gemeindereferentin Anne Hermanns-Dentges erklärt: „Gemeinsam mit den jungen Leuten suchen wir nach tragfähigen Ausdrucksformen für ihren Glauben im Alltag und finden Ziele und Wege für ihre Zukunft.“
Dabei ist es egal, welcher Konfession die Projektteilnehmer angehören, sagt Hermanns-Dentges: „Ob Katholik, Protestant, Buddhist oder Atheist: Uns ist wichtig, dass die Bereitschaft besteht, auch christlichen Gottesdienst zu feiern.“ Inzwischen gibt es drei Visionauten-WGs im Bistum: Insgesamt leben hier fünfzehn Schulabgänger, Studiumsabbrecher und Heranwachsende in der Findungsphase unter dem Slogan „Living, Working, Growing“ zusammen. In einem kirchlichen Non-Profit-Projekt absolvieren sie ein Freiwilliges Soziales Jahr. Das Zusammenleben in der Visionauten-WG erfolgt eigenständig, ein Rahmenangebot kommt durch das Visionauten-Team zustande. „Zieht ein junger Mensch aus, sind die Eltern sein erster Ansprechpartner. Das ist als Heranwachsender, der sich beweisen möchte, nicht immer leicht“, sagt Hermanns-Dentges. „Wir sehen uns als Support. Wir helfen, wenn es brennt, möchten aber trotzdem die Eigenständigkeit der Visionauten fördern.“ Konkret heißt das: Wenn der Wasserhahn in der WG undicht ist, kontaktieren die Bewohner den Vermieter selbst. Kommen sie hier nicht zum Ziel, darf die Nummer der Gemeindereferentin gewählt werden.
„Aber auch bei Berufsfindungsproblemen, Lebensfragen und selbst bei Beziehungsproblemen sind wir Ansprechpartner“, sagt die Krefelderin. Bindungsarbeit ist da besonders wichtig: Zum Visionautenprojekt gehört deshalb ein Rahmenprogramm. Nicht nur der Freiwilligendienst in kirchlichen FSJ-Stellen wie dem Café OJE als Kinder- und Jugendeinrichtung, wie bei der Kindertagesstätte St. Martin oder beim Caritasverband in der Haustechnik gehören dazu, sondern auch gemeinschaftliche Angebote wie WG-Abende, Innovationsprojekte, Besinnungswochenenden oder Lebenscoaching sind Teil davon. „Wir möchten den Heranwachsenden Schonräume schaffen, die helfen, die eigenen Werte unabhängig vom Elternhaus oder dem Einfluss der Lehrer zu definieren“, schildert Hermanns-Dentges. „Das ist Berufungspastoral in reiner Form.“
Einer der Visionauten, der sein Findungsjahr im Moment durchläuft, ist der 20-jährige Johannes Tendyck. Nach seinem Abitur war auch für ihn der nächste Schritt nicht greifbar. Fünf Mal in der Woche arbeitet Johannes nun im Rahmen seines FSJs im Jugendhaus „Jojo“ in Krefeld-Uerdingen. Im offenen Treff mit Zehn- bis Achtzehnjährigen kann er sich einbringen: Er kocht mit den Jugendlichen, spielt Billard, leitet den Kiosk und integriert Freizeitangebote. Das FSJ hat den 20-Jährigen in seiner Entwicklung nach vorne gebracht, sagt er: „Berufliche Wertschätzung war für mich ein großes Thema. Das habe ich hier gelernt.“ Aktuell setzt Johannes sein erstes eigenes Projekt in der Einrichtung um: Unter seiner Initiative entstehen zwei Fußballtore, die zukünftig das Freizeitangebot des Jugendhauses erweitern werden. Das Projekt hat sich Johannes im Rahmen des Innovationsworkshops der Visionauten überlegt. „Die Heranwachsenden fragen sich dabei: ‚Was braucht die Welt von mir?‘“, erklärt Gemeindereferentin Anne Hermanns-Dentges. „Sie sollen das Gefühl bekommen, dass sie der Welt etwas zurückgeben können.“
Johannes brennt für sein Projekt: Mehrmals in der Woche trifft er sich mit Mitarbeitern und Jugendlichen aus dem „Jojo“-Jugendhaus, um die hölzernen Tore voranzubringen. Bis zur eigenen Innovationsidee war es ein langer Weg. Den ersten Impuls dafür gab der Auftaktworkshop in Wegberg. Mit Anne Hermanns- Dentges und ihren Kollegen wurde zu Beginn des Visionautenjahres der Grundstock für das Zusammenleben in einer WG gelegt. Das Erarbeiten der WG-Regeln stand da genauso auf dem Stundenplan wie spirituelle und kreative Angebote sowie das Definieren von Wünschen für das Visionautenjahr. Dabei beschäftigt Hermanns-Dentges eine Aussage der jungen Erwachsenen noch heute. „In der Schule fragt keiner danach, was du kannst und wovon du träumst. Es fragt keiner danach, worin du deine Berufung siehst“, gibt die Gemeindereferentin wieder. „Es ist unsere Aufgabe, den jungen Erwachsenen Perspektiven und Wege zu zeigen.“
Neue Wege hat Johannes auch in London gefunden. Mit den Visionauten war er hier, um sich kirchliche Projekte anzuschauen. Wenn Johannes über London spricht, verändert sich seine Stimme. Das, was der 20-Jährige erlebt hat, hat ihn zutiefst berührt und seine Einstellung geprägt. Voller Begeisterung erzählt er von einem Café, das inmitten des Londoner Großstadtgetümmels einen Ruhepol schafft: Obdachlose sind hier zu Kellnern geworden, immer wieder finden Gottesdienste im Café statt. „Wenn mir vor einem Jahr jemand gesagt hätte: ‚Komm, wir gehen dahin‘, hätte ich ihm den Vogel gezeigt“, sagt Johannes und lacht. „Es wäre schade, wenn ich das Projekt nicht besucht hätte. Ich bin durch die Visionauten offener geworden.“ In wenigen Monaten wird Johannes aus der WG ausziehen. Wie sein Weg dann weitergeht, weiß er nur vage. „Ich möchte erst einmal jobben, um mir eine eigene Wohnung leisten zu können“, erklärt der 20-Jährige. Johannes ist mutiger geworden. Er glaubt an sich, weil er weiß, was er selbstständig schaffen kann. Er hat neue Marschrouten kennengelernt und schätzt die Dinge anders wert, sagt er von sich selbst. Er vertraut in das Leben – so, wie es sich für einen Visionauten gehört. Denn er ist sich sicher: „Wenn ich offen bleibe, wird sich schon etwas ergeben.“
In Krefeld beginnt nach den Sommerferien der zweite Visionautenjahrgang.
Die WG ist konfessionslos. Eine Bereitschaft, christlichen Gottesdienst zu feiern und sich mit christlichen Themen auseinanderzusetzen, wird vorausgesetzt. Ebenso die Bereitschaft, sich in das WG-Leben einzubringen.
Der Lebensunterhalt ist durch das Kindergeld und FSJ-Gehalt abgedeckt. Finanzielle Einschränkungen sollten einer Teilnahme am Projekt nicht im Wege stehen. Alles weitere unter www.die-visionauten.de.