Zeit für neue Gemeinsamkeit

Der Münsteraner Professor Thomas Schüller wirbt für sachlichen Umgang mit dem Aachener Gutachten

Jetzt beginnt die Arbeit. Bischof Helmut Dieser (r.) hat das Gutachten aus den Händen der Rechtsanwälte Ulrich Wastl (l.) und Martin Pusch entgegengenommen. (c) Bistum Aachen/Andreas Steindl
Jetzt beginnt die Arbeit. Bischof Helmut Dieser (r.) hat das Gutachten aus den Händen der Rechtsanwälte Ulrich Wastl (l.) und Martin Pusch entgegengenommen.
Datum:
1. Dez. 2020
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 49/2020

Das Bistum Aachen hat am 12. November bescheinigt bekommen, in den letzten Jahrzehnten nicht angemessen mit Tätern und Betroffenen von sexualisierter Gewalt umgegangen zu sein. Seitdem wird auf vielen Ebenen über viele Aspekte des Themas debattiert. Mit dem nüchternen Blick eines Kirchenrechtlers, aber dem heißen Herzen eines ethisch positionierten Christen verfolgt der Münsteraner Professor Thomas Schüller die Aachener Entwicklung. Im KiZ-Gespräch ermutigt er uns alle, zu einer neuen Gemeinsamkeit zu finden, um das dunkle Kapitel abzuschließen und in Frieden ein neues aufzuschlagen. 

Kennt das Bistum Aachen gut, begrüßt das Gutachten und wirbt für eine offene Aussprache über dessen Wertungen und Empfehlungen: Thomas Schüller, Professor und Direktor am Institut für Kanonisches Recht an der Universität Münster. (c) privat
Kennt das Bistum Aachen gut, begrüßt das Gutachten und wirbt für eine offene Aussprache über dessen Wertungen und Empfehlungen: Thomas Schüller, Professor und Direktor am Institut für Kanonisches Recht an der Universität Münster.

Sie haben das Aachener Gutachten zum Goldstandard erhoben. Was hat Sie zu dieser Einschätzung geführt?
Was die Münchener Rechtsanwälte hier erarbeitet haben, ist weithin fehlerfrei und sorgfältig erarbeitet. Sowohl das einschlägige kirchliche Strafrecht als auch das staatliche Strafrecht werden kompetent von A bis Z analysiert. Das wundert mich auch nicht. Die Kanzlei Westphal Spilker Wastl ist bundesweit angesehen, kennt sich bestens mit kirchlichen Strukturen aus und kann diverse exzellente Referenzen vorweisen. Ich bin daher dankbar, dass sich Bischof Helmut Dieser und Generalvikar Andreas Frick nicht von ihrer Linie abbringen ließen. Liest man die Kölner Einlassungen, könnte man ja meinen, man hätte es mit einer Dorfkanzlei zu tun. Das Gegenteil ist der Fall, und es ehrt die Aachener Diözese, konsequent bei ihrer Linie geblieben zu sein.

 

Wo liegen die besonderen Stärken des Gutachtens, das nun vorliegt?
Mich beeindruckt zum Beispiel, wie die Entwicklung des rechtlichen Rahmens beschrieben ist, in dem sich kirchliche Verantwortliche in den letzten Jahrzehnten bewegten. Da ist ja in der Tat viel passiert und es ist gut eingeordnet. Zugleich aber entlässt das Gutachten die Bischöfe und Generalvikare nicht aus der Verantwortung, die sie auf sich nahmen im Umgang mit der sexualisierten Gewalt von Klerikern gegenüber Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen. Insofern finde ich auch die Bewertungen und Empfehlungen schlüssig. Mir ist aber klar, dass man darüber geteilter Meinung sein kann. Ich finde es wichtig, darüber zu diskutieren und zu streiten, um Sichtweisen zu klären und voranzukommen in möglichst großer Gemeinsamkeit.

 

Manche kritisieren die parteiische Tonalität des Gutachtens, während andere genau diese Orientierung an den Betroffenen begrüßen. Was sagen Sie dazu?
Die Gutachter tun genau das, was ihr Auftrag war. Es war von ihnen gerade nicht nur eine am Recht ausgerichtete Aufarbeitung gefragt, sondern dem Bistum Aachen war eine moralische Bewertung der Verantwortlichkeit wichtig. Orientierender Maßstab ist für die Anwälte die ethische Folie, mit der die Kirche auf dem Fundament des Evangeliums unterwegs ist. Und da wundert es nicht wirklich, dass hier konsequent aus Betroffenen-
perspektive bewertet wird. Auch hier zeigt sich, dass die beteiligten Anwälte mit dem katholischen Glauben vertraute Menschen sind. Aber noch einmal: Der Streit darüber ist legitim, es ist wichtig, sich daran zu reiben.

 

Einer der Konfliktpunkte im aktuellen Streit ist die Frage, wie der Umgang von Altbischof Mussinghoff mit Tätern und Opfern sexualisierter Gewalt aussah. Wie lassen sich hier Brücken bauen?
Die Akten, auf welche die Kanzlei als Basis für ihre Ermittlungen zurückgriff, waren unvollständig. Und sie bilden nicht alles ab, was in dem Zusammenhang zur Einordnung wichtig ist. Ich fürchte, dass in den begleitenden Interviews nicht alles erinnert und ausgesprochen wurde, was hier von Relevanz ist. Insofern ist das Bild leider nicht ganz vollständig, ohne dass man daraus der Kanzlei einen Vorwurf machen könnte. Klar ist sicherlich, dass Heinrich Mussinghoff wie viele Bischöfe seiner Generation sich mit dem Thema schwer tat, es nicht auf einer persönlichen Ebene an sich heranließ. 
Zugleich hat er nach besten Kräften das getan, was er besonders gut konnte: Er hat das Kirchenrecht in Deutschland in dem Punkt maßgeblich in die richtige Richtung weiterentwickelt und auch seine Diözese in der Frage der Prävention bundesweit hervorragend aufgestellt, worauf nun die Nachfolger mit wirklich exzellenten Leuten aufbauen können. Diese Feststellungen sollen keinen Deut wegnehmen von dem, was er an Verantwortung für unangemessenen Umgang mit Tätern und Opfern zu tragen hat. Aber sie runden das Bild dieses Bischofs ab. Es ist heute leicht, sich zu empören, und es ist auch richtig so. Aber man muss sehen, dass die Verantwortlichen Kinder ihrer Zeit waren. Das entschuldigt nichts, erklärt aber vielleicht uns heute befremdende Verhaltensweisen. 

 

Sie sagen, es ist richtig, sich zu empören. Wenn man sich so umhört, sind die Irritationen groß auf allen Seiten. Wie kommt man aus dieser Situation heraus?
Ja, es ist gut, sich aufzuregen und zu reiben, denn die Sache gibt zunächst auch nichts anderes her. Aber dieses hohe Erregungsniveau darf kein Dauerzustand werden. Zorn, Trauer und welche Gefühle auch immer noch im Spiel sind, müssen der Vernunft weichen. Vernünftig ist, sich sachlich mit den Bewertungen und Empfehlungen des Gutachtens auseinanderzusetzen, Punkt für Punkt. Auf dieser informierten Basis dann das Gespräch suchen mit anderen und aus dem Gespräch wiederum die richtigen Schlüsse ziehen, das ist das, was jetzt ansteht. Ich bin der Meinung, das geht nur zusammen mit allen, die es betrifft. Und damit meine ich bei Weitem nicht nur die Kleriker. Sie zahlen gerade die Zeche für das Fehlverhalten von Mitbrüdern in der Vergangenheit und zum Teil auch heute und zudem für die Fehlentscheidungen von Verantwortlichen. Das kann nicht anders sein, denn wie Bischöfe und Generalvikare steht man auch als Priester in der andauernden Geschichte einer sündigen Kirche. Wenn man in eine Nachfolge eintritt, tritt man auch in die Verantwortung der Vorgänger ein. 
Ich bin aber der festen Überzeugung, dass es damit allein nicht getan ist, sondern dass wir alle im Volk Gottes diese strukturelle Sünde und Schuld auf uns nehmen und aufarbeiten müssen. Denn das Thema ist so viel größer als die Taten von Klerikern, so monströs und menschenverachtend diese Handlungen auch gewesen sind. Das Gutachten spricht zu Recht von systemischen Ursachen, die sexualisierte Gewalt gefördert haben. Zum System gehört letztlich das ganze Volk Gottes. Daher können wir alle uns nicht von der Last des geschehenen Unrechts befreien, wir sind alle in die Pflicht genommen, mea culpa zu sagen und es in Zukunft besser zu machen.  


 
Verantwortung übernehmen und bekennen ist das eine, in Zukunft es besser machen, das andere. Was ist zu tun, um sexualisierter Gewalt, wie sie sich durch Kleriker ereignete, künftig besser vorzubeugen? 
Das Gutachten zeigt mit seinen Empfehlungen auf, wie vielschichtig das Problem ist und wie viele konkrete Ansatzpunkte für Lösungen es gibt, wo auch wir alle gefragt sind, uns eine Haltung zu erarbeiten und sie im Alltag zu leben. Die Kultur der Achtsamkeit und des Hinschauens, von der jetzt zu Recht so viel die Rede ist, muss von allen getragen werden, von jedem Mann und jeder Frau. Denn leider haben auch viele von uns nicht genau hingeschaut, lieber weggeschaut trotz Hinweisen, trotz Ahnungen. In dieser Hinsicht sind viele schuldhaft verstrickt. Aber in der Sache begründet, gilt ein Blick der künftigen Personalarbeit. Hier gibt das Gutachten dem Bistum wertvolle Empfehlungen mit auf den Weg.

 

Welche meinen Sie?
Das beginnt schon bei der Auswahl von Priesteramtskandidaten. Hier muss noch besser als bisher geschaut werden, wie das Persönlichkeitsprofil der interessierten Person aussieht. Insbesondere ist sein Umgang mit der eigenen Sexualität ein Thema, das auf den Tisch gehört. Denn kaum ein Mensch hat hier nicht Bedürfnisse und Gefühle. Sie dürfen nicht verdrängt werden, womöglich sogar mit Stigma oder Sanktion behaftet. Sondern es muss künftig stärker als bisher möglich sein, darüber offen zu reden. Erst wenn man zur eigenen Sexualität ein gutes, klares Verhältnis hat, kann ein Seelsorger auch angemessen auf Menschen zugehen. Und wenn ich Sexualität sage, meine ich damit alle Formen, in denen sie auftritt und Liebesbeziehungen entstehen, also gleich, ob heterosexuell, homosexuell, bisexuell oder transsexuell, gleich ob klassische Familie, Patchworkfamilie, Alleinerziehende oder Singles. 
Die Kirche muss hier zu einer angstfreien Kommunikation kommen – unter ihren Mitgliedern und unter ihren Mitarbeitern, dort insbesondere auch unter den Klerikern. Ich hoffe, dass Bischof Helmut Dieser dieses Thema beim Synodalforum vorantreibt, dem er vorsteht. Dort, auf der Ebene der Deutschen Bischofskonferenz, kann er zeigen, dass es ihm mit diesem Anliegen wirklich ernst ist. Und im praktischen Alltag im Bistum Aachen ebenso, auch da sollte es möglich sein, angstfrei über Sexualität und Liebe zu sprechen, unabhängig vom Geschlecht, von der Orientierung, von der Berufsgruppe. Ein weites, ein wichtiges Feld, in dem Umkehr möglich ist.

 

Umkehr braucht es, soviel steht fest, auch im Umgang mit den Opfern sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche. Was entnehmen Sie hier an wertvollen Impulsen aus dem Aachener Gutachten? 
Entscheidend ist hier, dass wirklich ein Mentalitätswandel einsetzt. Ich finde es erfreulich von Bischof Dieser, dass er sagt: Es muss ein Ende haben, dass wir dieses Thema nur aus Sicht der Kirche sehen, sondern wir müssen es mit dem Blick der Opfer betrachten. Das ist genau das, was jetzt fällig ist. 
Selbstkritisch möchte ich aber hinzufügen: Wir alle, die wir diesen Prozess der Umkehr begleiten, egal ob als Journalisten, Wissenschaftler oder auch als Bischöfe, dürfen nicht in den alten paternalistischen Fehler verfallen, zu glauben und zu wissen, was den Opfern gut tut. Sondern sie sollen und müssen es selbst sagen. Wir, die wir nicht betroffen sind, bleiben alle Lernende, und zwar in aller Demut vor dem Leid, dem die Opfer ausgesetzt wurden und sind. Wir dürfen sie nicht erneut entmündigen, und sei es noch so gut gemeint. 
Und das hat Konsequenzen. Die Betroffenen sollen also selbst entscheiden, ob sie mit uns zusammenarbeiten, wie sie das tun, wer ihrer Kommission oder ihrem Beirat angehört. Die Kirche hat diesen Willen ohne Einflussnahme zu akzeptieren, sie darf sich der Betroffenen nicht wieder ermächtigen wie einst die Täter. Aber eines darf und soll sie sicherlich: diese unabhängige Selbstorganisation finanziell und logistisch unterstützen als Zeichen, dass die Kirche die Aufarbeitung ihrer Verantwortung ohne Wenn und Aber annimmt. Die Betroffenen aber bestimmen selbst, mit welchen Themen sie sich auseinandersetzen und mit wem sie reden.

 

Das Aachener Gutachten spricht manche Empfehlungen mit der Einschränkung aus, dass diese wohl eher auf höherer Ebene umgesetzt werden können und müssen. Was sagen Sie dazu?
Auf Rom müssen wir nicht hoffen. Da setze ich eher auf die heilsame Dezentralisierung, die uns Papst Franziskus auf die Fahne geschrieben hat. Den deutschen Diözesen kann man vor diesem Hintergrund nur sagen: Tut das Gute, tut das Richtige, und fragt nicht Rom! Bischof Dieser soll mutig seine Einflussmöglichkeiten in der Deutschen Bischofskonferenz nutzen, um die im Gutachten benannten Empfehlungen zur Handhabung der systemischen Ursachen umzusetzen. 
Aber bei manchen Punkten, wie zum Beispiel bei der Frage einer stärkeren Beteiligung von Frauen an der Leitung von Kirche, droht die Falle, die ich eben schon bei den Betroffenen benannt habe. Wir laufen hier Gefahr, Frauen zu verzwecken. Keinesfalls darf nun den Frauen in bisher nicht gekannter „Großzügigkeit“ die Rolle zugewiesen werden, dass sie es sind, welche die strukturellen Probleme der Kirche zu lösen haben. Da braucht es deutlich mehr. Auch dürfen wir nicht vergessen, dass es auch Täterinnen gibt. Dieses Kapitel des weiten Feldes von geistlichem und sexuellem Missbrauch im Raum der Kirche ist noch nicht gut beleuchtet. Das wiederum darf gleichwohl nicht als Vorwand gelten, Frauen nicht stärker in die Leitung einzubeziehen, denn mit ihren Blickwinkeln und Erfahrungen verändern sie in jedem Fall Handeln und Kultur der Institution.

 

Unter dem Strich: Wie kann es weitergehen in der Aachener Debatte?
Das Gutachten liegt vor und löst Streit aus. Das ist gut so, solange es um die Sache geht. Wenn dabei der angestrebte Kulturwandel in Richtung Achtsamkeit, Gewaltfreiheit, Transparenz und Offenheit im Blick ist, die Annahme von Verantwortung, Demut und Bußfertigkeit, ist das Bistum Aachen auf einem guten Weg. Ein solcher Mentalitätswandel braucht Zeit und erfordert viele Schritte. Das gilt nicht nur für den Bischof, der rollengemäß besonders im Fokus steht, sondern es gilt für alle. Wenn wir uns als Kirche, als Glaubensgemeinschaft verstehen, teilen viele von uns die Erfahrung, wegen unserer Zugehörigkeit kritisiert zu werden. Da geht es meistens um die nicht aufgearbeitete Vergangenheit. 
Umso wichtiger ist es, gemeinsam zu einer Haltung zu kommen, das, was geschehen ist, anzuerkennen und zu tragen, Schuld zu bekennen, zu bereuen. Wir Christinnen und Christen haben die Gabe und das Gebot der Versöhnung, auch und gerade in einer solchen schmerzlichen Situation, in der wir uns gerade unzweifelhaft befinden. So sind wir alle aufgerufen, aus der aktuellen Polarisierung herauszufinden. Nur ein versöhntes Bistum bleibt beeinander. Wir müssen immer wieder Abstand zu den Dingen einnehmen, um sie sachlich zu sehen. Ein solcher Klimawandel kann nicht verordnet werden, sondern muss wachsen im gegenseitigen Zuhören, im Verstehen und Lernen. Und auch vielleicht einfach mal in Demut, Sichzurücknehmen und Schweigen.

 

Das Gespräch führte Thomas Hohenschue.