Nach einem weiteren sehr warmen und trockenen Jahr in Deutschland und einem weiteren Jahr weltweiter Extremwetter-phänomene ist offensichtlich: Das Zeitfenster für eine Umkehr in der Industrie- und Wirtschaftspolitik schließt sich. Es ist jetzt die Zeit zu handeln. Der erste Schritt dahin ist, sich gesellschaftlich zu verständigen, wohin die Reise geht.
Das ist auch im aufgeheizten Konflikt um die Zukunft des Rheinischen Reviers erforderlich. Und so luden der Aachener Diözesanrat der Katholiken und der Evangelische Kirchenkreis Jülich zu einer offenen Aussprache ein. Bei einem Online-Fachabend am 5. November mit etwa 70 Gästen stand der Entwurf einer energiepolitischen Leitentscheidung der NRW-Landesregierung im Mittelpunkt. Zu diesem Entwurf können zurzeit im Rahmen eines behördlichen Beteiligungsverfahrens Eingaben gemacht werden.
Was die Landesregierung da vorgelegt hat, wird vielerorts als Rückschritt gegenüber den Verpflichtungen gewertet, die Deutschland im Pariser Klimaschutzabkommen übernommen hat. Nach dieser Lesart fällt die angestrebte planerische Grundlage für das Rheinische Revier gegenüber den Kompromissformeln der Kohlekommission zurück, sowohl in ihren Grundzügen und Details als auch in den absehbaren Folgen für Mensch, Klima, Ökologie und Ökonomie.
Ende der Kohleförderung in Garzweiler spätestens 2038, Erhalt des Hambacher Forstes, veränderte Nutzung einiger Flächen, neue Seen, die sich mit Rheinwasser über 40 bis 60 Jahre lang füllen: Alexandra Renz, Leitende Ministerialrätin am Ministerium für Wirtschaft, Innovation, Digitalisierung und Energie NRW, skizzierte die Eckpunkte des Entwurfs der Leitentscheidung. Sie betonte, dass damit ein wohlausgewogener gesellschaftlicher Ausgleich zwischen den verschiedenen Interessen angestrebt sei.
Ihrer Argumentation, dass mit der Neuplanung des Braunkohleabbaus neue Sicherheit, neue Perspektiven und neuer Frieden für die Menschen der Region verbunden seien, mochte Thomas Krämerkämper, stellvertretender Vorsitzender der Bundes für Umwelt- und Naturschutz NRW, nicht folgen. Er sieht im Gegenteil eine einseitige Vorteilnahme für die Interessen des RWE-Konzerns. An den verschiedenen schädlichen Abweichungen vom Fahrplan der Kohlekommission habe niemand anders etwas, sondern der nötige Strukturwandel werde verschleppt und der Schaden für das Klima sei immens. Mit mehr Entgegenkommen seien Umsiedlung und Zerstörung von Dorfgemeinschaften und Kulturgütern abwendbar.
Dass das Rheinische Revier über die Braunkohle hinaus große Potenziale für Beschäftigung und Wertschöpfung hat, arbeitete Henry Riße, Senior Scientist am Forschungsinstitut für Wasser- und Abfallwirtschaft, heraus. Die Region könne zum Modell nachhaltiger Entwicklung werden, mit regenerativen Energieprojekten wie Solarfeldern an Tagebauböschungen zum Beispiel. Das ist schon sehr gut durchgerechnet worden. Wenn nun schon etwas Neues entsteht, sollte es nachhaltig sein, plädierte Riße für dezentrale, kleine Lösungen statt Großtechnologie.
Bei der Neuverteilung von Flächen im Zuge der veränderten Planung dürften die Belange der Landwirtschaft nicht übersehen werden, mahnte Bruno Schöler, Projektleiter an der Landwirtschaftskammer NRW. Die aktuelle Unterdeckung in der regionalen Versorgung dürfe nicht verschärft werden. Auch in der Wasserzuteilung brauche die Landwirtschaft einen Zuschlag, für mehr Beregnung.
Apropos Wasser: Das wird vermutlich ein Kernproblem des Strukturwandels werden, denn die Grundwasserabsenkung im Rheinischen Revier ist schon heute eklatant. Die Zuleitung von Wasser aus benachbarten Flüssen verhindert, dass die Region trockenfällt. Die für den Konzern günstige Rekultivierungslösung, eine Landschaft von Restseen entstehen zu lassen, erfordert weiteres Wasser. Ob aber der Rhein künftig nicht jeden Tropfen selbst braucht, um Schifffahrt und andere Zwecke zu erfüllen, steht in den Sternen.
Die ökologischen, geologischen, sozialen und wirtschaftlichen Aspekte rund um den Strukturwandel, der dem Revier ins Haus steht, sind überaus komplex. Jens Sannig, Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises, wünschte sich, dass der Diskurs fortgeführt wird. Ein interdisziplinäres Institut der Hochschulen könne doch den Transformationsprozess flankieren, dachte er laut nach.
Damit rannte er bei Karl Weber, dem Vorsitzenden des Diözesanrats, offene Türen ein. Es brauche dringend die regionale Verständigung, um hier vor Ort die Klimaziele zu erfüllen und soziale Härten etwa durch Umsiedlungen zu vermeiden. Es gehe darum, das Zusammenleben menschlich und zukunftsgewandt zu gestalten. Die entsprechenden Impulse des Abends werden in die offiziellen Anhörungen zur Leitentscheidung eingebracht. Das Thema ist dran.