Wo unermessliches Leid entstand

Kunstinstallation in der Citykirche Aachen spürt Missbrauch und seiner Vertuschung nach

Kritisches im Kirchenraum: Optisch und textlich griff der Abend brennende Themen auf. (c) Thomas Hohenschue
Kritisches im Kirchenraum: Optisch und textlich griff der Abend brennende Themen auf.
Datum:
23. Nov. 2022
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 47/2022 | Thomas Hohenschue

Beichtstühle, Sakristeien, Räume hinter Hochaltären: allesamt Orte, in denen in den letzten Jahrzehnten eine Unzahl von Kindern und Jugendlichen sexualisierte Gewalt erfahren hat. Mitte November wurden symbolisch in der Citykirche Aachen diese Areale durch Flatterband als Tatorte abgesperrt. Somit ist gesichert, dass das geschehene Unrecht untersucht und aufgearbeitet wird. 

Die Flatterbänder sind Teil einer Kunstinstallation „Tatorte der Kirche“, die den immer noch schleppenden Prozess der Aufarbeitung von (Macht-) Missbrauch in der katholischen Kirche thematisiert. Die Ausstellung sollte Gäste der Kirche St. Nikolaus an der Großkölnstraße aufrütteln und sensibilisieren. Tafeln ordnen die Bausteine der Installation ein und sind mit Zitaten von Missbrauchsbetroffenen versehen, dem Buch „Erzählen als Widerstand“ entnommen.

Zur Sprache kommen dabei explizite Missbrauchshandlungen sexueller Natur, aber auch geistlicher und spiritueller Natur. Beides sei gleichermaßen gewaltsam und widerlich, betonte Annette Diesler auf der Vernissage. Die Aufarbeitung sei häufig auf körperliche Aspekte verkürzt, kritisierte die geistliche Leiterin des KFD-Diözesanverbandes Aachen, die die Installation mit der Aachener Frauenseelsorge und einem Team von Ehrenamtlichen konzipiert und umgesetzt hatte.

Nicht nur mit Blick auf die desaströse Situation im Nachbarbistum Köln steuert ein „Täterschreibtisch“ einen Beitrag zum Gesamtbild bei. Überall kann man mit dem Stand der Aufarbeitung nicht zufrieden sein. Nicht umsonst liegt auf dem Schreibtisch das Aachener Missbrauchsgutachten und stellt die mahnende Frage: Ist wirklich alles getan, um die Schreibtischtaten von Personen aufzuarbeiten, welche den Schutz der Institution vor den Schutz von Betroffenen stellten?

Der Aachener Bischof ist seit Kurzem Missbrauchsbeauftragter der Deutschen Bischofskonferenz. Wegen Ad-limina-Besuchs in Rom verhindert, sandte Helmut Dieser zur Vernissage per Grußwort aufrüttelnde Botschaften. Unter den Zuhörern befanden sich Mitglieder aus Aachener Staatsanwaltschaft und Betroffenenrat und auch Helmut Keymer, der bis zu seiner Pensionierung vor einigen Monaten als Interventionsbeauftragter wertvolle Aufbauarbeit im Bistum Aachen leistete.

Die Ausstellung lenkt den Blick auf die Tat-Orte in der Kirche

„Kinder und Jugendliche haben in der katholischen Kirche jahrzehntelang sexuellen Missbrauch erlitten“, leitete Bischof Dieser seine Gedanken ein. „Statt Fürsorge und Nächstenliebe zu erfahren, wurden sie Opfer von schwerstem Machtmissbrauch. Was sie als Minderjährige durchlebt haben, wirkt in ihnen ihr ganzes Leben nach. Es ist unermessliches Leid.“

Die Ausstellung lege den Finger in diese Wunde, indem sie den Blick auf die Tatorte lenke. „Durch den Missbrauch haben die Täter Orte zu Tat-Orten gemacht, an denen die Liebe Gottes besonders erfahrbar sein soll und an die Jesus gerade die Kinder ruft“, analysiert der Bischof. „Diese Orte des Schutzes und der Geborgenheit sind durch den Missbrauch für viele Menschen so zu Orten der Zerstörung und des Schmerzes geworden.“

Auf diese schmerzliche Spannung, die auch viele aus dem Mitarbeiter- und Seelsorgerteam der Kirche erfasst, wies bei der Vernissage auch der Aachener Künstler Roland Mertens hin, der einen Beitrag zur Ausstellung beigesteuert hat. Im Stil eines antiken Mosaiks stellt er einen Messdiener dar, über dem ein lateinischer Spruch prangt. Übersetzt lautet er: „Da ist niemand, mit dem ich über meine Schande sprechen kann.“ Mertens bringt damit die leidvolle Erfahrung vieler Betroffener auf den Punkt, denen lange niemand glaubte – in der Hierarchie und Bürokratie, aber auch in Gemeinde und Familie.

„Mit Ihrer Ausstellung stärken Sie eine Kultur des Hinsehens und der Achtsamkeit, aber auch der kritischen Auseinandersetzung mit den Ursachen von Missbrauch in der katholischen Kirche“, würdigt Bischof Helmut Dieser. Und schließt mit einem Blick nach vorne: „Diese Ausstellung sensibilisiert uns alle, Sorge dafür zu tragen, dass Kirche wieder ein sicherer Ort ist, an dem Menschen die Liebe Gottes erfahren und Trost erleben können.“

Info

Die Installation „Tatorte der Kirche“ in der Aachener Citykirche hat den Schlusspunkt einer Veranstaltungsreihe gesetzt, die sich mit den systemischen Ursachen von sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche beschäftigte.

Mehr Informationen unter www.wiedervorlage-aufarbeitung.de. Als Veranstalter zeichnen verantwortlich: BDKJ-Diözesanverband Aachen, Bischöfliche Akademie des Bistums Aachen, Diözesanrat der Katholiken im Bistum Aachen und KFD-Diözesanverband Aachen.