Die Benediktiner-Abtei Dormitio auf dem Berg Zion liegt völkerrechtlich im Niemandsland zwischen Israel und Palästina. Abt Nikodemus Schnabel erklärt, warum sie eine besondere Anlaufstelle im Herzen Jerusalems für Christen, Juden und Moslems ist.
Abt Nikodemus, wie haben Sie in der Dormitio-Abtei den Advent gefeiert?
Abt Nikodemus Schnabel OSB: Klassisch. Wir haben bei der ersten Vesper am 29. November einen Adventskranz gesegnet. Die gesamte Gemeinde war eingeladen, anschließend gab es ein Abendessen. Wir sind neben Kloster und Theologischem Studienjahr ja auch eine Pfarrei. Sonst ist der Advent klassisch geprägt von unseren Gebetszeiten. Eine Besonderheit sind die Rorate-Messen, die wir aber auf den Abend legen, um auch möglichst vielen Volontären, Studierenden des theologischen Studienjahres und Gemeindemitgliedern die Teilnahme zu ermöglichen. Es sind wunderbare, nur mit Kerzenschein beleuchtete Messen.
In Deutschland sind die Weihnachtsmärkte überlaufen, gibt es die in Jerusalem?
Schnabel: Es gab einen kleinen, im Kreuzgang, bei den evangelischen Christen. Als Christen in Jerusalem sind wir eine unglaublich kleine Minderheit, wir prägen nicht das Stadtbild. Die Mehrheit der Menschen sind Juden und Muslime. Die Weihnachtsfeiertage sind Werktage. Die Behörden arbeiten, die Post hat geöffnet, es herrscht reges Treiben in den Geschäften. 1,8 Prozent der Menschen sind Christen. Aufgeteilt auf drei Weihnachtsfeste der Westkirche, der Ostkirche und der Armenier gibt es keine dominante Weihnachtsstimmung. Gefeiert wird vor allem im Armenischen und Christlichen Viertel der Altstadt, und – jetzt wieder – in Betlehem, in der West Bank. Dort gab es große Diskussionen. Die einen wollten wieder feiern, mit Weihnachtsmarkt, Baum und Beleuchtung. Die anderen treten auf die Bremse. weil das Töten und der Krieg vorbei sind, aber viele Menschen ihre Existenz verloren haben. Nazaret ist ebenfalls eine stark christlich geprägte Stadt. In Aschdod, Netanja und Herzlia finden Sie aber kein Weihnachten.
Gehen Sie in der Heiligen Nacht nach Bethlehem?
Schnabel: Es ist für uns eine alte Tradition, nach Bethlehem zu gehen. Wer will, kann uns die Namen geliebter Menschen anvertrauen, die wir in der Heiligen Nacht auf einer Rolle mitnehmen. Um 21 Uhr feiern wir in der Abtei eine Christmette auf Deutsch. Zur Vigil um Mitternacht kommen Hunderte Menschen, vor allem jüdische Israelis, die Wurzeln in Deutschland und Österreich haben, deren Großeltern vielleicht erzählt haben, wie „Weihnukka“ gefeiert wurde. Diese Israelis singen ohne Liedzettel „O du Fröhliche“ und „Stille Nacht“ mit. Ich bin in dieser Nacht vermutlich der einzige katholische Priester, der eine Predigt vor lauter Juden hält. Im Anschluss segnen wir die Rolle mit den Namen und gehen die zehn Kilometer zu Fuß nach Betlehem.
Zu Fuß durch die Nacht?
Schnabel: Vorbei an Lieferautos, Putzkolonnen, vorbei an der unsichtbaren Bevölkerung, ohne sichtbare Weihnachtsstimmung. Wenn wir um 4.30 Uhr in Bethlehem ankommen, ruft der Muezzin zum Frühgebet. Wir haben zu dieser Zeit die Geburtsgrotte für uns alleine, vor Ort sind viele katholische Migranten. Diese Feier mit interessierten jüdischen Israelis in Jerusalem, das gemeinsame Gebet am Geburtsstern in Betlehem – mehr Konfrontation mit Weihnachten im Sinne von „Gott wurde Mensch“ gibt es nicht. Wenn wir das Morgenlob für die Menschen anstimmen, die uns anvertraut sind, ist das ein emotionaler Moment. Wir sind an einem Sehnsuchtsort von Milliarden von Christen weltweit und dürfen Hoffnung schöpfen.
Was gibt Ihnen Hoffnung und Trost?
Schnabel: Auch in den Klöstern wurden manche Namen während der vergangenen Jahre häufiger in den Mund genommen als Jesus Christus. Und es sind nicht Sympathieträger, über die gesprochen wird. Es tröstet mich, dass das letzte Wort über das Leben der Menschen auf der Welt, über mein Leben, nicht diese Aufgeplusterten haben, diese Zyniker und Kriegstreiber, sondern Jesus Christus.
In Gaza herrscht Waffenruhe. Wie empfinden Sie die Stimmung in Israel? Wie geht es den Christen in Gaza?
Schnabel: Völkerrechtlich lebe ich auf dem Berg Zion sozusagen im Niemandsland zwischen Israel und Palästina. Ich erlebe die Stimmung als erschöpft, auf beiden Seiten. Das tägliche Töten ist vorbei. Die Christen in Gaza, die bewusst geblieben sind, haben nicht mehr die Angst, dass die Raketen links und rechts einschlagen. Die Palästinenser sind zum Teil neun mal geflohen, Frieden ist eine andere Sache. Auf der anderen Seiten wurden Geiseln übergeben, die sterblichen Überreste ausgehändigt. Auch dort ist noch kein Frieden. Es gibt auf allen Seiten Verwundung, Traumatisierung. Zerstören geht in Sekunden. Aber der Aufbau, nicht nur betonmäßig, das wieder Vertrauen fassen – braucht Generationen.
Eine hoffnungslose Situation?
Schnabel: Ich habe lange mit der Delegation gesprochen, die nach Gaza hinein durfte. Was sie beeindruckt hat, waren die Kinder, die zwar mit Raketentrümmern gespielt haben, aber keinen Hass hatten. Sie beten jeden Tag zu Gott, er möge alle Menschen schützen. Christen, Juden und Moslems, Israelis und Palästinenser. Die Pfarrei „Heilige Familie“ ist die einzige katholische in Gaza. Offenbar ist es gelungen, die Kinder zu Hoffnung und Menschlichkeit zu erziehen. Gebetet wird um eine schützende Hand für alle, nicht dafür, dass der andere vernichtet wird. Das gibt mir Hoffnung. Viele der Kinder wollen Krankenschwester werden, Arzt oder Ärztin. Ihr großer Wunsch ist, etwas zu werden, wo sie heilen, versöhnen und etwas Gutes tun können.
Wie könnte ein Weg zu einem dauerhaften Frieden aussehen?
Schnabel: Verbales Abrüsten ist der erste Schritt. Auf beiden Seiten erleben wir Politiker, die dehumanisieren, dämonisieren. Das ist Menschenverachtung in Reinform, blanker Zynismus. Jeder Mensch ist nach dem Bild Gottes (Bibel) geschaffen, Stellvertreter Gottes (Koran). Wir müssen die Kostbarkeit des Menschen in den Mittelpunkt des Denkens und Handelns stellen, einander zuhören, nicht einem Opferwettbewerb verfallen, das eigene Leid ins Schaufenster stellen und das Leid der anderen marginalisieren. Wir müssen einander zuhören, ertragen, was der andere zu ertragen hat. Es fehlt an Kompromissen in einer Region mit zwei Macho-Gesellschaften, in denen sich Politiker dafür feiern lassen, dass sie keinen Millimeter zurückweichen. Beide Seiten müssen bereit sein, schmerzliche Abstriche zu machen. Die jüdischen Israelis sehnen sich nach Sicherheit, die Palästinenser nach Freiheit und Selbstbestimmung. Momentan werden Albträume wahr: Die eine Seite fühlt sich schutzlos, die andere wie im Gefängnis. Ich selbst bin weder pro Israel noch pro Palästina. Ich bin pro Mensch.
Welchen Beitrag kann Ihre Gemeinschaft dazu leisten?
Schnabel: Wir Benediktiner folgen der Spiritualität des rechten Maßes. Wir maßen uns nicht an, den Nahostkonflikt zu lösen, ducken uns aber auch nicht weg, wenn die Weltgeschichte über uns hinwegfegt. Wir sind eine Minderheit in der christlichen Minderheit, aber uns wurden zwei Klöster anvertraut. Zwei wichtige biblische Orte, die Strahlkraft haben. Wie können wir wirken? Wir waren nie geschlossen, haben alle Mitarbeiter gehalten, mit enormen finanziellen Verlusten. Wir haben unsere Begegnungsstätten offen gehalten. Es kamen keine Pilger und Touristen, aber Einheimische, Jugendgruppen. Wir bieten Orte, an denen alle Menschen Seelsorge erfahren. Darunter auch viele Priester und Ordensleute, die an der Front täglich mit Leid konfrontiert waren. Wir sind nach wie vor auch für Menschen mit Handicap da. Kriegsversehrte gelten als Helden, aber wer von Geburt an behindert ist, fällt durchs Raster. Tabgha und die Abtei Dormitio waren während der vergangenen Monate Orte der Seelsorge, aber gerade die Dormitio wurde auch zum Kulturort, mit Konzerten und Ausstellungen, bei denen Juden, Muslime und Christen zusammensaßen. Wir geben den Raum und Platz an einem Ort, zu dem sich beide Seiten hintrauen. Wir sind zwei Hoffnungsinseln in einem Ozean von Leid.
Welche Rolle spielen die Pilger, spielt der Tourismus?
Schnabel: Die Christen sind eine Minderheit, aber 60 Prozent von ihnen arbeiten im Tourismusbereich. Sie haben eine Nische gefunden, der größte Tourismusfaktor sind christliche Pilger. Nicht nur politisch ist für Christen beim derzeitigen Schwarz-Weiß-Denken kein Platz, auch wirtschaftlich nicht. 2019 war das letzte Jahr, in dem wir als Abtei Rücklagen bilden konnten. Das gilt für alle. Wir haben eine harte Zeit erlebt, viele Christen sind ausgewandert. Sie haben das Gefühl: Ob du hier bist oder nicht interessiert keinen, für dich setzt sich niemand ein. Die Pilger sind wirtschaftlich wichtig, aber es geht auch um Solidarität, indem eine Minderheit merkt: Es gibt noch mehr von uns. Eine Win-win-Situation für das Heilige Land wäre, wenn wieder Pilger kommen. Nichts gegen Rom, aber begonnen hat das Ganze hier! Wer als Pilger ins Heilige Land herkommt, für den bekommt die Bibel Geschmack. Ich weiß, dass für die christlichen Palästinenser in Bethlehem und Umgebung der Tourismus eine Frage des Überlebens ist – genauso wie für uns Klöster.
Deckt sich das Bild, das in den Medien vermittelt wird, mit Ihrem Erleben der Situation vor Ort?
Schnabel: Es gibt eine gewisse Angst, das ist ein westeuropäisches Phänomen. Wenn im Fernsehen der Korrespondent mit dem Mikro in Jerusalem steht, im Hintergrund aber Bilder aus Gaza eingeblendet werden, sieht man Zerstörung und liest Jerusalem. Wer das Heilige Land wirklich erleben will, sicher und nicht überlaufen, sollte sich auf den Weg machen. Jetzt ist die Zeit.
Seit dem Jahr 2023 ist Dr. Nikodemus Claudius Schnabel OSB Abt der Jerusalemer Benediktinerabtei Dormitio und des Priorats Tabgha am See Gennesaret. Tabgha genießt sowohl in Israel als auch in Palästina eine hohe Bekanntheit durch seine Jugend- und Behindertenbegegnungsstätte „Beit Noah“. Abt Nikodemus ist einer von zwei Mönchen der Abtei, der sich im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz als Seelsorger um die deutschsprachige Katholische Auslandsgemeinde im Heiligen Land kümmert.
Ein Herzensanliegen ist Abt Nikodemus die Weihnachtsaktion „Ich trage Deinen Namen nach Betlehem“. In der Weihnachtsnacht machen sich die Benediktiner wie damals die Hirten zu Fuß auf den Weg nach Betlehem. Sie nehmen dabei fast 150.000 Namen aus aller Welt mit, die auf einer Schriftrolle nicht nur im übertragenen Sinne mitgehen. Verbunden damit ist eine Spendenaktion, mit deren Erlös soziale Projekte und Einrichtungen in Betlehem unterstützt werden. Mehr Infos: https://dormitio.net/weihnachtsaktion