„Wir haben nur fassungslos in das große Loch geschaut“

Als Langendorf abgebaggert wurde, verloren Trude und Franz Wings ihre Heimat. Neubeginn in Dürwiß

Setzt sich für das Gedächtnis an die abgebaggerten Dörfer im Kirchspiel ein: Franz Wings. Die Kapelle steht auf Neuland genau an der Stelle, an der vor dem Abbaggern die Kirche von Lohn stand. (c) Bistum Aachen/Andreas Steindl
Setzt sich für das Gedächtnis an die abgebaggerten Dörfer im Kirchspiel ein: Franz Wings. Die Kapelle steht auf Neuland genau an der Stelle, an der vor dem Abbaggern die Kirche von Lohn stand.
Datum:
17. Okt. 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 42/2024 | Sabine Rother

Noch heute steigen Tränen auf, manchmal, obwohl das Glück mit einer gesunden Familie, Enkeln und Urenkeln groß ist, sich Trude (84) und Franz Wings (86) wohl und gut versorgt fühlen bei einem Leben der Veränderungen und tiefgreifenden Neuanfänge.  

Kaum zu fassen: Bis auf wenige Meter reichten die Abbruchkanten sowohl im Westen als auch im Osten an Fronhoven heran. (c) Repro: Bistum Aachen/Andreas Steindl
Kaum zu fassen: Bis auf wenige Meter reichten die Abbruchkanten sowohl im Westen als auch im Osten an Fronhoven heran.

Wings ist Landwirt, Ehefrau Trude hat gleichfalls die Landwirtschaftsschule besucht. Als Trude gerade einmal 16 Jahre jung ist, verliebt sie sich in Franz, bei einer Versteigerung der Maibräute hat er sie „errungen“, für 40 Mark – und nicht mehr losgelassen. „Bis heute bekomme ich jedes Jahr einen Maibaum“, strahlt sie. Die beiden haben längst die Diamanthochzeit gefeiert, aber nicht im Ort ihrer Jugendliebe.

Ihr Dorf, dort, wo Franz Wings den Hof von Großvater und Vater übernehmen wollte, war Langendorf im Kirchspiel Lohn – Städtedreieck Eschweiler, Jülich, Düren. Die Orte Lohn, Fronhoven, Langendorf, Erberich, Pützlohn sowie das Rittergut Hausen bildeten eine Gemeinde, die bis auf einen Teil von Fronhoven in der Zeit von 1972 bis 1985 von den Schaufelradbaggern der Rheinischen Braunkohlenwerke geräumt und ausgekohlt wird.

 

Sozial engagiert und seit fast 70 Jahren unzertrennlich: Trude und Franz Wings. (c) Bistum Aachen/Andreas Steindl
Sozial engagiert und seit fast 70 Jahren unzertrennlich: Trude und Franz Wings.

187 Menschen gibt es damals allein in Langendorf – eine funktionierende Gemeinschaft. „In den 50er-Jahren hörten wir zum ersten Mal von den Plänen der Rheinbraun“, erinnert sich Wings, der zu der Zeit auf gutem Boden Ackerbau betreibt, Getreide, Zucker- und Futterrüben anbaut, dazu einen kleinen Viehbestand hat. Er ist gern Landwirt, freut sich auf die Übernahme des Hofes gegenüber der Grundschule, auf dem er Kind gewesen ist, den Zweiten Weltkrieg mit der Familie – Mutter, Vater, Schwester und zwei Brüder – erlebt hat. Der Vater, der wegen eines Herzleidens vom Kriegsdienst freigestellt ist, muss sich noch um zwei weitere Bauernhöfe kümmern, deren Männer als Soldaten eingezogen waren.

Mit dem Kriegsende verbindet der Bauernsohn allerhand Erinnerungen – an den hilfreichen Großvater Peter Müller, der auf seinem Hof Brot backte, aber auch an verendetes Vieh auf den Weiden, Not und an gefährliche Spiele, zu denen die großen Jungs den kleinen Franz mitnahmen –  etwa die Zünder von Panzerminen abzudrehen. „Die Großen waren ja da, ich hatte nie Angst“, lächelt Wings heute.

Vom Heimatort Langendorf ist nur noch das Dorfkreuz erhalten, das man am Ortseingang von Fronhoven wieder aufgebaut hat und das nach wie vor an die Toten der beiden Weltkriege erinnert. Anfang der 1970er-Jahre ist es soweit. Die Umsiedlung aufgrund der Planungen des Braunkohletagebaus ist unausweichlich und damit die Zerstörung des Dorfes. „Wir mussten unseren Besitz verkaufen“, erinnert sich Trude Wings. „Wenn wir uns geweigert hätten, wären wir enteignet worden. Proteste oder Aktionen kannten wir gar nicht.“

„Wir haben uns irgendwann gezwungen, dort nicht mehr hinzugehen.“

(c) Repro: Bistum Aachen/Andreas Steindl

Schmerzhaft ist der Moment, als die Abrissbirne das vertraute Haus trifft. Immer wieder setzen sich die Wings sonntags auf ihre Fahrräder, und radeln zum einstigen Heimatort. Wings: „Wir haben dann irgendwann nur noch fassungslos in das große Loch geschaut und uns dazu gezwungen, dort nicht mehr hinzugehen.“

Seit 1962 ist das Paar bereits verheiratet, kann sich nach 1972 ein schönes Haus in Dürwiß bauen, in das auch die Schwiegermutter mit einzieht. Der Schwiegervater ist bereits 1964 gestorben. Sie sind mit den vier Söhnen, inzwischen 14 Enkeln und sogar bereits vier Urenkeln glückliche Familienmenschen, die Verantwortung füreinander empfinden. Sohn Alfred wird sogar bei der KG Narrengarde Dürwiß Prinz Alfred II., dessen Bruder Gregor Zeremonienmeister. Frühzeitig hat sich Trude Wings kirchlich und sozial engagiert, unter anderem im Besuchsdienst der Pfarrei in Eschweiler, hat Kontakte mit anderen Eltern gepflegt. „Man muss sich öffnen“, sagt sie schlicht.

Präsente Geschichte: Schaufelradbagger und Kraftwerk zieren ein Fenster in der Lohner Gedächtniskapelle. (c) Bistum Aachen/Andreas Steindl
Präsente Geschichte: Schaufelradbagger und Kraftwerk zieren ein Fenster in der Lohner Gedächtniskapelle.

Im neuen Leben ist es wichtig, den Abschied, die Erinnerungen an die Wege über die Dorfstraße zur Schule, Kirchfeste, Schützenfeste, Einkäufe im Kolonialwarengeschäft Trost, die Gaststätte Dickmeis und mehr zu verkraften. Wings behält vom Hof nur seinen Traktor mit Anhänger. Als 32-Jähriger bewirbt er sich beim Zoll – und wird genommen. Trude Wings wäre gern Lehrerin geworden, schreibt bis heute Reisetagebuch und Berichte, unter anderem zu Pilgerfahrten auf den Spuren des Apostels Paulus oder nach Santiago de Compostela. „Mit vier eigenen Kindern kann man nicht gut als Lehrerin arbeiten, das wurde mir bald klar.“ Die Familienstruktur ist es, die allen Halt gibt, bis heute. „Meine vier Schwiegertöchter sind wunderbar, das ist nicht selbstverständlich“, schwärmt sie. Der neue Berufsweg zusammen mit einem quirligen Cockerspaniel als Drogenhund, der Rauschgift in den kleinsten Ritzen der Autos findet und sich daheim mit dem Schäferhund gut versteht, funktioniert für Franz Wings gut.

 

Eine Familie mit Humor. „Mein Mann hat sich einmal im Karneval als Rotkäppchen verkleidet und unser Hund war der Wolf“, lacht Trude Wings. Ehemann Franz engagiert sich bald beim Ausbau des Historischen Pfades am Blausteinsee, der an die Orte erinnert, die weichen mussten und wo es inzwischen eine schöne Gedenkkapelle gibt. Ruhe findet das Paar im sonntäglichen Gottesdienst, der gehört für sie zum Leben. Und wenn das einmal nicht möglich ist, setzen sie sich vor den Fernseher und nehmen am TV-Gottesdienst teil. 
Die größte Umstellung für die beiden? „Im Dorf hat niemand sein Haus abgeschlossen, das war nicht üblich“, erinnert sich Trude Wings. „Das mussten wir lernen.“ Als Franz Wings im Zuge des Schengener Abkommens in den Vorruhestand beim Zoll gehen kann, hat er Zeit für Neues – und noch immer die Kraft dazu. Von 1994 bis 2004 ist er Stadtrat in Eschweiler, wo er die CDU vertritt. Sein Grundsatz auch bei Querelen: „Man muss die Meinung des anderen stets akzeptieren.“

Vermissen die beiden die Landwirtschaft? Fünf Uhr aufstehen, das Vieh versorgen, die Kinder für den Schulbus fertig machen, dann aufs Feld? „Das war unser Leben, aber danach hatten wir andere Möglichkeiten, Reisen wären durch die Landwirtschaft nicht möglich gewesen“, sagen beide. Nun gibt es eine kleine Wand im Hausflur, die an spannende Pilgerfahrten und an das Beisammensein mit anderen Menschen erinnert, nicht zuletzt an einen besonderen Handschlag: mit Papst Johannes Paul II. – das Foto von der herzlichen Begegnung beweist es.