„Wir haben jetzt zwei Heimaten“

Wie Frauen aus Syrien und dem Nord-Irak nach der Flucht ihren Neustart erleben

(c) Garnet Manecke
Datum:
1. Okt. 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 40/2024 | Garnet Manecke

Wie ihr neues Leben in Deutschland aussieht, wovon sie träumen und was sie 
vermissen, haben drei Frauen aus dem Nord-Irak und Syrien im Gespräch mit 
Moderatorin Suha Hussrieh berichtet. Der SKM, die Stadtteilbibliothek Rheydt und der Verein Mönchengladbacher Erzählcafé hatten im Rahmen der Interkulturellen Woche dazu eingeladen.

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Suha Hussrieh.  „Wir haben unsere Heimat verlassen, aber jetzt haben wir zwei Heimaten“, sagt die 36-Jährige. „Meine Kinder sind in Deutschland geboren.“ Das älteste ihrer drei Kinder ist acht Jahre alt, die alte Heimat ihrer Mutter kennen sie nicht.
Zum zweiten Mal moderiert Suha Hussrieh das Erzählcafé in der Stadtteilbibliothek Rheydt. In Interviews hilft sie den Frauen, ihre Geschichte zu erzählen. „In ihrer Muttersprache können sie das natürlich gut, aber in Deutsch ist das schwer für sie“, sagt sie. Vier Monate hat sie mit den Frauen das Erzählcafé vorbereitet, ihre Geschichten gehört und mit ihnen ausgewählt, was sie erzählen wollen.

Auch sie selbst hat eine Geschichte zu erzählen. „In Syrien war ich Zahnärztin“, sagt Suha Hussrieh. Wegen des Krieges konnte sie nicht dort bleiben, sie war damals schwanger. In Deutschland hat es ihr geholfen, dass sie Englisch konnte. Sie hat Deutsch gelernt und auch die Medizin-Sprachkurse gemacht. „In der deutschen Sprache sind einige Sachen gleich wie in der arabischen, zum Beispiel die Grammatik“, ist ihr aufgefallen. „Das hat mir geholfen.“

Heute arbeitet sie als Sprachmittlerin auf Arabisch und engagiert sich in der Hausaufgabenbetreuung für Grundschulkinder. Beim SKM (Katholischer Verein für soziale Dienste) koordiniert sie eine Frauengruppe, zu der regelmäßig 15 Frauen aus verschiedenen Ländern kommen. Für sie alle gilt: „Wir wollen uns hier ein neues Leben aufbauen.“ Suha Hussrieh ist seit acht Jahren in Deutschland. Bevor sie vor vier Jahren nach Mönchengladbach kam, hat sie vier Jahre in Sachsen gelebt.
Ihre Geschichte im Erzählcafé zu erzählen, ist für die Frauen mehr als eine Nachmittagsunterhaltung. „Sie merken, dass sie etwas schaffen können“, sagt Suha Hussrieh. Auch wenn sie dafür Hürden überwinden müssen.

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Salame Muhammed.  Drei Sprachen spricht die 50-Jährige: Neben ihrer Muttersprache Kurdisch kann sie sich auch auf Syrisch oder Türkisch unterhalten. Als sie vor neun Jahren nach Deutschland gekommen ist, hat sie ihre Sprachkenntnisse um Deutsch erweitert. „Mein Name bedeutet Frieden“, sagt sie. Genau den hat sie in Deutschland gesucht, als sie mit ihrem Mann ihre Heimat verließ.

„Ich bin in einem kleinen Dorf geboren. Als ich sechs Jahre alt war, ist meine Familie in eine kleine Stadt in Nordost-Syrien gezogen“, erzählt die 50-Jährige. Wenn sie an ihre Kindheit denkt, erinnert sich die Kurdin, dass sie gerne mit dem Seil gespielt hat und an ihr Lieblingsessen: Knoblauch mit Joghurt. Auch an das Newrozfest (Fest des Frühlingsanfangs) erinnert sie sich noch gut. „Die Menschen tanzen und singen und tragen schöne, traditionelle Kleider. Wer einen Garten hat, macht ein Gartenfest, und es wird gegrillt.“ Von ihren zwei Schwestern und drei Brüdern lebt nur ein Bruder in Deutschland.

Ihr Leben in dem neuen Land hat auch Salame Muhammed mit einem Sprachkurs begonnen. Die Sprache zu lernen, hält sie für wichtig. In Syrien hat sie keine Schule besucht, aber sie hat Träume für ihr Leben. „Ich möchte gerne als Friseurin arbeiten“, sagt sie.

Layla Haydar.  Ihr Name weist auf die Umstände ihrer Geburt hin: „Es gibt eine Nacht im Jahr, in der niemand schläft. Es ist eine heilige Nacht, und in dieser Nacht wurde ich geboren“, erzählt die 28-Jährige, die nicht fotografiert werden wollte. „Mein Name bedeutet Nacht.“

Das Dorf, in dem die Jesidin aufgewachsen ist, sei sehr klein gewesen, sagt Layla Haydar. „Die Umgebung ist trocken, es gibt viel Armut, aber wir waren trotzdem zufrieden.“ Aus gesundheitlichen Gründen sei sie nicht zur Schule gegangen wie ihre Geschwister. „Später war ich zu alt für die Einschulung“, sagt sie. Also hat sie ihrer Mutter im Haushalt geholfen und später für den Familienunterhalt in der Landwirtschaft gearbeitet.
2014, als der IS in den Nord-Irak eindrang, war sie mit ihrer Familie auf einem Bauernhof beschäftigt. „Wir haben viele IS-Autos gesehen und mein Vater hat gesagt, dass wir gehen müssen“, berichtet sie. Um vier Uhr morgens ist die Familie aufgebrochen nach Kurdistan. Eineinhalb Jahre hat sie in einem Flüchtlingslager gelebt, bis sie schließlich Ende 2015 nach Deutschland gekommen ist.

Ein Leben voller neuer Erfahrungen erwartete die junge Frau: Zum ersten Mal in ihrem Leben hat sie eine Schule besucht. Der sechsmonatige Sprachkurs wurde die Basis für eine weitere Lernkarriere. „Ich habe meinen Hauptschulabschluss gemacht, und im Moment mache ich den Realschulabschluss“, sagt sie.

Wie war es für sie, zum ersten Mal eine Schule zu besuchen? „Wie ein kleines Kind war ich sehr zufrieden und begeistert, weil ich eine Chance bekommen habe, etwas zu lernen“, erinnert sie sich. „Und es gibt in der deutschen Kultur Menschenrechte, Frauen und Kinder haben Rechte.“ Trotzdem vermisst sie ihr Heimatland, ihre Großeltern und die anderen Verwandten. Nach ihrem Realschulabschluss will sie eine Ausbildung im Gesundheitsbereich machen.

   >> Ich habe meinen Hauptschulabschluss gemacht, jetzt mache ich den Realschulabschluss.<<

Layla Haydar

(c) Garnet Manecke

Lamiaa Hasken. Die 29-Jährige kommt aus Shingal im Nord-Irak. „Acht Jahre bin ich dort zur Schule gegangen“, berichtet die junge Frau. „Weil meine Mutter krank wurde, habe ich die Schule verlassen und zu Hause gearbeitet.“ Ein Jahr sei ihre Mutter bettlägerig gewesen, deshalb habe sie den ganzen Haushalt übernommen und ihre Familie versorgt.
Als die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ (IS) in das Gebiet im Nord-Irak eindrang, flüchtete Lamiaa Hasken. „2015 bin ich nach Deutschland gekommen“, sagt die 29-Jährige. Ihr Mann lebte schon in diesem neuen Land, das sie vorher nicht kannte.

„Der Anfang war nicht leicht“, erinnert sie sich und erzählt die Geschichte von ihrem ersten Ausflug in die Stadt. „Mein Mann hat mir gesagt, wie ich mit dem Zug fahren sollte und wie viele Stationen ich fahren musste“, sagt sie. „Als der Zug angehalten hat, gingen auf beiden Seiten die Türen auf. Weil ich nicht wusste, auf welcher Seite ich aussteigen musste, bin ich in der Mitte stehen geblieben.“

Die Folge: Die Türen schlossen sich wieder und der Zug fuhr weiter. Lamiaa Hasken rief ihren Mann an, der sie beruhigte. „Er sagte mir: ‚Keine Angst, du fährst eine Station zurück‘“, erzählt sie. Die Geschichte ist gut ausgegangen, der Stadtbummel konnte anschließend stattfinden.

Heute lebt sie in Mönchengladbach, in den ersten Monaten hat sie einen Deutschkurs besucht. „Aber dann wurde ich schwanger und bin zu Hause geblieben“, sagt sie. Inzwischen hat sie zwei Töchter und einen Sohn, das älteste Kind ist sieben Jahre alt, das jüngste sieben Monate. Für die Zukunft möchte Lamiaa Hasken noch intensiver die Sprache lernen, ihr Ziel ist eine Ausbildung zur Erzieherin.
Ihre Eltern und ihre Schwester im Nord-Irak hat sie seit neun Jahren nicht gesehen. Sie vermisst ihre Familie. Im Oktober wird sie zum ersten Mal wieder in ihre alte Heimat reisen, um sie zu besuchen.