„Wir haben eine enorme Kraft, anderen Menschen zu helfen“

Den größten Beitrag zur Integration Geflüchteter leistet das Ehrenamt, unterstreicht Andreas Funke, Referent für Seelsorge mit Geflüchteten im Bistum Aachen

linnich_MG_0293_grading (c) Bistum Aachen/David Klammer
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Datum:
31. Aug. 2023
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 35/2023 | Stephan Johnen

Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht, nicht nur aufgrund des Ukrainekriegs, der derzeit medial noch am meisten Aufmerksamkeit erfährt. Andreas Funke, Referent für Seelsorge mit Geflüchteten im Bistum Aachen, hebt die Bedeutung der Arbeit der Ehrenamtlichen in den Pfarreien hervor, die die größten Beiträge zur Integration Flüchtender leisten. Die Politik fordert er auf, den gerechten Umgang der Menschen miteinander und die Bekämpfung der Fluchtursachen in den Vordergrund der Entwicklungspolitik zu stellen.

Herr Funke, welche Botschaft ist Ihnen mit Blick auf den Umgang mit Geflüchteten besonders wichtig?

Wir haben als Individuen und Gesellschaft eine enorme Kraft und Stärke, anderen Menschen zu helfen. Mental wie auch wirtschaftl­­ich. Das sollten wir uns bewusst machen, um Menschen, die  aus Gefahr für Leib, Leben und Seele aus ihrem Land geflohen sind, zu unterstützen.

 

Welchen Stellenwert hat die Flüchtlingsarbeit im Bistum Aachen?

Im Bistum ist der Stellenwert sehr hoch. Die Flüchtlingsseelsorge wird als wichtiges Thema gesehen. Im Bistum leben wir die Frohe Botschaft: „Sei für deinen Nächsten da und helfe.“
 

Andreas Funke (c) Stephan Johnen
Andreas Funke

Welche Möglichkeiten zur Unterstützung Geflüchteter bietet die Kirche?

Neben der Caritas, die ein großer Player in diesem Bereich ist, gibt es ein großes ehrenamtliches Engagement in den Gemeinden, ohne das die beiden großen Wellen 2015 und jetzt in Folge des Ukrainekrieges so nicht zu bewerkstelligen gewesen wären. Angeboten werden Sprachcafés, Informationsveranstaltungen, Bewerbungstrainings, aber auch Hilfe rund um Themen des Verbraucherschutzes. In den ehrenamtlichen Strukturen gibt es eine enge Verknüpfung zu einer professionellen Unterstützung.


Wo liegt die besondere Stärke des Ehrenamts?

Die Ehrenamtler leisten einen enorm hohen Beitrag zur Integration. Einen Beitrag, der sonst nur schwer zu leisten wäre. Sie nehmen die neuen Nachbarn mit zu Straßenfesten und Pfarrfesten, sorgen für Anbindung und ein Zurechtfinden in der deutschen Gesellschaft. Wir haben nach 2015 lernen müssen, dass es auch ein Kulturmanagement braucht, wenn Anbindung funktionieren soll.

Gibt es denn noch ausreichend Ehrenamtler, die sich einbringen?

In unseren Pfarreien sind es noch viele Menschen, die sich einbringen und mitarbeiten. Ein großer Teil der Initiativen läuft schon über 20, 30 Jahre. Insgesamt bleibt die Unterstützung auf einem Niveau, auf dem Integration gelingen kann.


Hat Europa eigentlich bewiesen, dass es in der Lage ist, große Fluchtbewegungen zu bewältigen?

Wir haben das nicht schlecht hinbekommen. Viele Behörden haben sich auf die Situation der Geflüchteten eingestellt. Ich möchte es noch einmal betonen: Es flüchtet keiner aus Spaß aus seiner Heimat, da stehen immer Einzelschicksale hinter. Große Not beim Thema Flüchtlinge sehe ich in Spanien, Italien, Griechenland – an den Außengrenzen der Europäischen Union. Diese Länder müssen schon seit einiger Zeit mit deutlich größeren Belastungen der Hilfs- und Unterstützungssysteme umgehen. Eine gerechte Verteilung von Flüchtlingen findet meines Erachtens noch nicht statt. 

(c) Bistum Aachen/David Klammer

Es gibt heute schon Stimmen, die sagen, die Grenze des Zumutbaren wäre auch für wohlhabende Länder wie Deutschland erreicht …

Was würden wir denn tun, wenn wir selbst in einer Kriegssituation wären? Wer würde nicht wollen, dass seine Familie sich in Sicherheit bringt? Aktuell wird schnell eine Debatte geführt, dass sich alle Probleme lösen lassen, wenn wir keine Flüchtlinge mehr haben. Auf dieser Ebene führe ich keine Diskussion mehr. Wir hatten beispielsweise auch vor den Fluchtwellen schon Probleme mit fehlenden Kindergarten- und Grundschulplätzen. Auch der Fachkräftemangel wird sich nicht ohne eine Einwanderung lösen lassen.

 
Wie steht es um die Willkommenskultur?

Die Willkommenskultur wird nicht konsequent durchgehalten. Am Anfang jeder Fluchtwelle gab es eine eine enorme Welle der Hilfsbreitschaft, die nach einem halben Jahr aber wieder abflachte. Wir gewöhnen uns an das Leid der Menschen. Wir haben uns daran gewöhnt, dass es Krieg gibt. Für die Geflüchteten jedoch könnte jeder neue Tag der Tag sein, an dem ein Angehöriger stirbt. Daran kann sich niemand gewöhnen. Die Solidaritätsbekundungen zum 32. Jahrestag der Gründung der Ukraine waren im Vergleich zum Vorjahr verschwindend gering. 

 

Ist es eine Form von Wohlstandsverwahrlosung, dass wir denken, der Krieg betrifft uns nicht?

Wir können diese Probleme gefühlt nicht lösen – also neigen wir dazu, sie auszublenden. Das ist ein menschlicher Schutzmechanismus. Aber wir sollten immer in der Balance bleiben zwischen dem, was wir als Christen Nächstenliebe nennen, und dem Eigenschutz, dem Abstumpfen vor dem Schicksal der Menschen, die hier unter uns leben und etwas Unterstützung und Hilfsbereitschaft suchen. 

 

Tun wir zu wenig, um den Menschen ein Leben in Deutschland als Alternative zu bieten?

Wir haben fast in allen Bereichen ein Manko an Fachkräften. Und dennoch schicken wir Menschen weg, die gerade eine Ausbildung abgeschlossen haben oder mittendrin sind, weil sie aus den falschen Herkunftsländern kommen oder formal kein Asylgrund vorliegt. Oft ist es die Einzelfallentscheidung in einer Behörde, die über Schicksale entscheidet. 

 

Viele Ehrenamtliche engagieren in den Gemeinden in der Flüchtlingsarbeit. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Integration. (c) Bistum Aachen/David Klammer
Viele Ehrenamtliche engagieren in den Gemeinden in der Flüchtlingsarbeit. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Integration.

Was hat das Bistum in seiner Arbeit geändert?

Aufgrund der Erfahrungen 2015 haben wir einiges verändert. Wir bündeln beispielsweise Hilfsangebote, Institutionen und Jobangebote auf einer Plattform des Bistums, wo Besucher auch Vernetzungsangebote finden können, ebenso Freizeitangebote. Wir müssen den Menschen auch den Raum geben, für eine kurze Zeit unbeschwert das Leben genießen zu können. In den ersten sechs bis acht Wochen sind alle Flüchtlinge damit beschäftigt, hier anzukommen. Danach erst brechen Trauer und Angst um die, die zurückgeblieben sind, durch. Auch das muss aufgefangen werden, ganz oft in der Ehrenamtsstruktur. Die Ehrenamtler sind die erste Anlaufstelle. Zu unserer Aufgabe gehört es, dann die passenden Unterstützungsangebote zu vermitteln. 

Gibt es in der öffentlichen Wahrnehmung eigentlich Flüchtlinge 1. und 2. Klasse?

Die Flüchtlinge aus der Ukraine sind meist nicht jugendlich und männlich. Für uns und auch die Caritas ist klar: Alle Flüchtlingsgruppen werden gleich behandelt, jede Gruppe braucht eine andere Unterstützung, aber es gibt keine Wertigkeit, es gibt bei uns keine selektive Solidarität.


 
Welche Flüchtlinge haben wir angesichts des Ukrainekriegs vergessen?

Es gibt viele Flüchtlinge aus Afrika, die medial nur vorkommen, wenn Flüchtlinge ertrunken sind oder in keinem Hafen anladen können. Was dringend nötig ist, wäre eine viel intensivere Bekämpfung der Fluchtursachen. Ein gerechter Umgang der Menschen miteinander und die gerechtere Verteilung von Ressourcen sollten im Vordergrund der Entwicklungspolitik stehen.