Prof Dr. Dr. Dr. Dominik Groß, geboren 1964 in St. Wendel (Saarland), ist seit 2005 Inhaber des Lehrstuhls für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der RWTH Aachen, Geschäftsführender Direktor des gleichnamigen Instituts und Vorsitzender des Klinischen Ethik-Komitees des Aachener Universitätsklinikums.
Seit März 2024 ist der Human- und Zahnmediziner und Neuzeithistoriker auch Rektoratsbeauftragter für Antisemitismus der RWTH. Wie kam es dazu, wie beurteilt er die Situation in Sachen Antisemitismus an der RWTH, wie fällt seine Bilanz der Vorlesungsreihe „Aufklärung statt Ausgrenzung: Antisemitismus im Fokus“ im vergangenen Sommersemester aus, und was hat er in Zukunft vor?
Herr Prof. Groß, wie kam es dazu, dass Sie Antisemitismusbeauftragter der RWTH wurden?
Groß: Ich betreibe seit 25 Jahren NS-Forschung und befasse mich als Neuzeithistoriker und Mediziner mit dem Schwerpunkt Medizin und Nationalsozialismus. Dadurch habe ich mich auch mit antisemitischen Ideen im „Dritten Reich“ und nach 1945 auseinandergesetzt. Ich habe drittmittelgeförderte Aufarbeitungsprojekte durchgeführt, zum Beispiel zu Zahnmedizinern und Pathologen, und hierbei untersucht, wie sich diese Gruppierungen in der NS-Zeit positioniert haben – gegenüber der politischen Führung, aber auch gegenüber den Juden in den eigenen Reihen. In derartigen Projekten geht es immer auch um die Frage, wie man heute mit politisch radikalen und antisemitischen Strömungen umgeht und wie sich die einzelnen Berufsgruppen, aber auch wir als Zivilgesellschaft positionieren sollten, um zu verhindern, dass sich der Antisemitismus weiter ausbreitet. Derzeit leite ich ein solches Aufarbeitungsprojekt für den Hartmannbund, den Berufsverband der Ärzte in Deutschland.
Ist die Uni beziehungsweise das Rektorat an Sie herangetreten oder kam die Idee von Ihnen?
Groß: Die Idee kam von Felix Klein, dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung, der 2023 vor uns NS-Forschern in Berlin eine Rede hielt, in der er betonte, an jeder Universität brauche man einen festen Ansprechpartner für Fragen des Antisemitismus. Damals bat er die Anwesenden, das Thema in ihre Rektorate hineinzutragen, und ich habe das Anliegen dem Rektor der RWTH, Ulrich Rüdiger, vorgetragen. Unser Rektor hielt das sofort für eine gute Idee und wollte und will mit der Berufung eines Antisemitismusbeauftragten Problembewusstsein auf diesem Gebiet wecken. Wir sind nach der Universität Münster die zweite Hochschule in Nordrhein-Westfalen, die eine solche Stelle eingerichtet hat. Kurz danach ist uns die Universität Bonn gefolgt.
Hat es bisher antisemitische Vorfälle an der RWTH gegeben?
Groß: Der Terror-Anschlag der Hamas vom 7. Oktober 2023 und die anti-israelischen und pro-palästinensischen Protestcamps an Hochschulen haben dem Thema eine neue, traurige Brisanz verliehen. Auch hier in Aachen gab es ein Pro-Palästina-Camp direkt vor dem Hauptgebäude. Vereinzelt haben jüdische Studierende das Camp als Bedrohung empfunden, aber es gibt nur wenige, die sich anvertrauen, weil sie sich gar nicht als jüdisch zu erkennen geben wollen. Sie befürchten Repressionen. Bisher hat meiner Kenntnis nach kein jüdischer Studierender beziehungsweise keine jüdische Studierende körperlich Schaden genommen. Aber das Rektorat ist durch die Camp-Verantwortlichen zum Teil schon heftig angegangen worden.
Fühlen Studierende an der RWTH sich also bedroht? Haben sie Angst, in der Mensa oder in Vorlesungssälen Kippa oder Davidsstern zu tragen?
Groß: Jüdische Studierende und Mitarbeitende werden vor allem in den sozialen Medien attackiert, aber sie haben tatsächlich auch Angst, jüdische Symbole wie Kippa oder Davidsstern zu tragen. Jüdische Studierende und Mitarbeitende werden auch insofern diskriminiert, als man sie persönlich für die Regierungspolitik Israels verantwortlich macht. Sie haben aber die dortige Regierung gar nicht gewählt. Wir arbeiten eng mit der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) zusammen, um immer über mögliche Vorfälle informiert zu sein. Uns liegt vor allem daran, das Signal auszusenden, dass jüdische Studierende und Mitarbeitende sich an der RWTH sicher und gut aufgehoben fühlen. Wir möchten deutlich machen: Wir achten auf euch und geben Antisemitismus keinen Raum.
Waren oder sind die Hochschulen in Deutschland – ähnlich wie das viel diskutierte Beispiel Harvard – Brennpunkte israel- und judenfeindlicher Proteste, wie es in den Medien oft dargestellt worden ist?
Groß: Eine solche Zuspitzung gibt es in Deutschland am ehesten in Berlin, und zwar dort an verschiedenen Hochschulen. Bei uns hat die Absage eines Montagabendgesprächs an der Fakultät Architektur im Dezember 2023 einigen Wirbel in der Öffentlichkeit hervorgerufen. Der Rektor gelangte damals – in einer nach dem Angriff der Hamas politisch aufgeheizten Stimmung – zu der aus meiner Sicht sehr verständlichen Einschätzung, dass die Veranstaltung besser verschoben werden sollte. Ihm wurde daraufhin vorgehalten, in die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit einzugreifen. Mittlerweile sind wir jedoch in ruhigerem Fahrwasser.
Laut einer Studie aus dem vorigen Jahr sind acht Prozent der Studierenden als antisemitisch einzustufen. Ist diese Zahl als hoch oder niedrig zu bewerten?
Groß: Das ist schwer zu sagen. Mein Eindruck ist, dass der rechtsradikale Antisemitismus bei uns weniger ausgeprägt ist, während der linke Antisemitismus im akademischen Milieu stärker vertreten ist. Acht Prozent antisemitische Studierende sind mir noch viel zu viel, denn die Universität sollte doch eigentlich ein Ort sein, an dem die Ideen der Aufklärung, des Pluralismus und der Meinungsfreiheit gepflegt werden. Wir bauen ganz darauf und setzen uns dafür ein, dass antijüdische Vorurteile und Stereotypen bei uns keinen Platz haben, denn sie passen nicht zu unserem Wertekodex.
Sind Unsicherheit und Unwissenheit unter den Studierenden groß, wie es von anderen Unis berichtet wird?
Groß: Dazu kann ich guten Gewissens nur im Hinblick auf die Studierenden in der Medizin etwas sagen: Da sind Unsicherheit und Unwissenheit meines Erachtens nicht groß, denn wir haben dort Pflichtseminare zum Themenfeld Nationalsozialismus, die jeder und jede durchlaufen muss. Diese Seminare genießen große Aufmerksamkeit und erfahren großen Zuspruch, und unsere Studierenden lernen dort auch, was Antisemitismus ist.
Ist „Antisemitismus“ überhaupt der richtige Begriff? Und welche Definition würden Sie bevorzugen?
Groß: Der Begriff „Antisemitismus“ ist fraglos unglücklich, weil er einen pseudowissenschaftlichen Eindruck erweckt. In Wirklichkeit geht es um nichts anderes als Judenhass beziehungsweise Judenfeindlichkeit. Letzteres wäre eindeutig der adäquatere Begriff, aber der Begriff „Antisemitismus“ ist nun mal etabliert, und man muss damit umgehen. Seitens der Hochschulrektorenkonferenz gibt es eine klare Festlegung auf die IHRA-Definition. Diese Festlegung erfolgte übrigens vor dem brutalen Massaker der Hamas und den nachfolgenden Konflikten in Gaza. Ich verstehe die IHRA-Definition übrigens nicht so, dass sie verbietet, sich konstruktiv-kritisch mit dem Regierungshandeln Israels auseinanderzusetzen. Die Bundesregierung tut das ja aktuell durchaus auch.
Wäre eine Antisemitismus-Klausel eine Hilfe?
Groß: Meiner Meinung nach brauchen wir an der RWTH keine explizite Antisemitismus-Klausel. Wir haben aber einen Wertekodex entwickelt. Darin legen wir uns darauf fest, dass wir rassistisches und ausgrenzendes Handeln entschieden ablehnen. Wir sprechen uns darin klar und deutlich für eine offene Gesprächskultur und Zivilcourage aus.
Ist Antisemitismus für Sie eher Wissens- oder Haltungsfrage?
Groß: Das hängt unmittelbar zusammen. Es bedarf eines fundierten Wissens, um Haltung zeigen zu können. Je geringer das Wissen ist, umso größer ist die Gefahr, dass man zu Stereotypen und zur Vorverurteilung neigt. Gerade akademisch Gebildete können und sollten Haltung zeigen, um in die Gesellschaft hineinzuwirken. Solides Wissen ist eine Voraussetzung und ein Motor für gelingendes gesellschaftliches Zusammenleben.
Ihre Veranstaltungsreihe „Aufklärung statt Ausgrenzung: Antisemitismus im Fokus“ hat ein hochkarätiges und vielfältiges Programm geboten. Wie beurteilen Sie im Nachhinein die Resonanz?
Groß: Die Resonanz war sehr unterschiedlich. Bei den Holocaust-Zeitzeugen Leon Weintraub und Henriette Kretz war sie mit Abstand am größten, ja geradezu sensationell. Wir hatten sogar mehr Anmeldungen, als wir berücksichtigen konnten. Am Ende war unsere Reihe weniger gut besucht. Vor dem Vortrag des Journalisten Dr. Ronen Steinke erhielten wir eine Warnung, dass eine Versammlung von Aktivisten geplant sei. Daraufhin haben wir die online-Anmeldeliste geschlossen und dadurch die Anzahl der Zuhörer limitiert. So etwas ist immer ein Balanceakt. Vielleicht können wir, wenn die politische Brisanz nachlässt, mittelfristig auf eine derartige Anmeldung verzichten. Schlussendlich wollen wir ja die breite Öffentlichkeit erreichen. Gerade deshalb arbeiten wir mit der Stadt Aachen, der Fachhochschule Aachen, der Deutsch-Israelischen Gesellschaft und der Jüdischen Gemeinde zusammen.
Hatten Sie den Eindruck, dass die Veranstaltungsreihe inhaltlich etwas bewirkt hat? Haben Sie vor, im nächsten Semester etwas Ähnliches zu veranstalten?
Groß: Davon gehe ich aus, denn die Rückmeldungen waren sehr positiv. Am wenigsten „bewirkt“ hat sicher die Podiumsdiskussion am Anfang. Insgesamt bedeutet eine solche Reihe einen hohen logistischen und finanziellen Aufwand. Sie wird dennoch im kommenden Wintersemester fortgesetzt, aber wir sind noch in der Planung. Wahrscheinlich werden drei Veranstaltungen stattfinden.
Arbeiten Sie auch mit den Kirchen zusammen?
Groß: Bisher habe ich noch nicht mit den Kirchen zusammengearbeitet. Das ist keine böse Absicht, sondern hat sich einfach noch nicht ergeben. Wir sind da aber sehr offen!