Was heißt es in einer von Krieg und Krise bestimmten Welt, Mensch zu sein? Und Mensch zu bleiben? Darüber hat sich die KirchenZeitung mit Pastoralreferent Georg Toporowsky aus dem Team „Seelsorge Nationalpark Eifel und Vogelsang“ ausgetauscht, der dort arbeitet, wo die Nationalsozialisten ihrem „Führungsnachwuchs“ einst jedwede Mitmenschlichkeit abtrainieren wollten.
Herr Toporowsky, ist die Welt gefühlt so kaputt, weil unser Menschenbild, unsere Menschlichkeit unter die Räder geraten sind?
Toporowsky: Es hilft nicht, eindimensionale Antworten zu geben. Die Gemengelage, die Befindlichkeit und Gefühle von Menschen sind komplex und differenziert, da lassen sich bestimmte gesellschaftliche Konstellationen nicht pauschal bewerten. Jede Zeit hat Ihre Herausforderungen und es ist wichtig, dies erst einmal so wahrzunehmen und zu schauen, wo kommen bestimmte Strömungen, Ansichten, Schwierigkeiten und Respektlosigkeiten im Umgang miteinander her.
Was ist die Herausforderung unserer Zeit?
Toporowsky: Immer wieder neu jedem Menschen den unbedingten Respekt, die unbedingte Wertschätzung entgegenzubringen. Vor allem durch gesellschaftspolitisches Handeln. Wie soll eine Gesellschaft aussehen, damit möglichst viele Menschen diese Wertschätzung erfahren können? Das muss durchdekliniert werden, ist eine große Herausforderung angesichts der beschleunigten Optimierungsprozesse.
Haben wir als Gesellschaft jedwede Vision verloren?
Toporowsky: Aus dem Bauchgefühl heraus würde ich sagen: Ja, diese Vision ist uns ein Stück verlorengegangen. Was ich vermisse ist die Möglichkeit, miteinander darüber ins Gespräch zu kommen, wo wir eigentlich hinwollen. Mit fehlt in vielen Bereichen der Politik und des Zusammenlebens eine gemeinsame Verständigkeit.
Liegt es an einer Parallelität der Klientelpolitik? Jeder zieht sein Ding durch – und wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht?
Toporowsky: Nicht nur in politischen Debatten mangelt es an der Bereitschaft, sich zu ergänzen, sie die Frage zu stellen: Was kann ich von anderen Standpunkten übernehmen? Jeder beharrt auf seinen Ideen und setzt seinen Standpunkt als absolut. Die Unterschiede werden betont, nicht das Gemeinsame.
Wie sieht Ihr Menschenbild aus? Gerne auch als Gegenentwurf zu den gesellschaftlichen Entwicklungen gedacht.
Toporowsky: Bei unserer Arbeit in Vogelsang verwenden wir gerne das Bild von einer Brille. Wir laden Menschen ein sich zu fragen, wie schaue ich eigentlich auf den Menschen – und was sehe ich da. Entscheidend ist die Bedingungslosigkeit von menschlicher Würde und menschlichem Wert. Wir alle sind so, wie wir sind, weil Gott das so gewollt hat. Wir alle sind Menschen mit Möglichkeiten und Fähigkeiten, aber auch Begrenztheiten. Wir sprechen eine Einladung zum Lernen aus, diesen Blick zu haben, die christliche „Linse“ vors Auge zu setzen. So, wie der andere ist, ist er genau richtig. Unterschiede sind kein Grund, andere Menschen abzuwerten.
Was bedeutet es, Mensch zu sein?
Toporowsky: Sich selbst und andere mit allen Stärken und auch dem Nicht-Können anzunehmen. Völlig wertfrei. Ein entscheidender Unterschied zwischen Nationalsozialismus und Christentum ist die Frage: Wie gehe ich mit (vermeintlicher) Schwäche um, mit Nicht-Können? In der NS-Zeit sollten auf Vogelsang die „starken Männer“ ausgebildet werden, alles Schwache musste „weggehämmert“ werden, damit man nur die Starken übrig hat. Das ist das Unmenschliche am Nationalsozialismus. Aber so sind wir Menschen nicht. Es ist ein Menschenrecht, in der Not Hilfe zu erhalten.
Wie bleiben wir in einer immer unmenschlicheren Welt denn Menschen?
Toporowsky: Menschlich bleiben bedeutet, dass Menschen weiter die Erfahrung machen können, bedingungslos angenommen zu werden. Wir müssen empathisch sein, uns in andere hineinversetzen. Selbstverständlich müssen wir unsere eigenen Bedürfnisse, Wünsche und Ängste wahrnehmen – aber auch gleichberechtigt die der anderen Menschen. Die Nazis haben es gemacht und auch die Rechtspopulisten wollen es: anderen das Menschsein absprechen, uns das Mitgefühl abtrainieren. Das eigene Selbstwertgefühl wird erhöht, indem ich auf andere herunterschaue. Wir sind aber alle gleichberechtigte Menschen.
Wie steht es um das Selbstwertgefühl der Menschen in einer krisenbehafteten Welt?
Toporowsky: Die Frage nach der Befindlichkeit ist immer sehr differenziert zu betrachten. Zur Entstehung von Rechtspopulismus lässt sich sagen, dass Menschen in Phasen der Angst und aus fehlendem Selbstwertgefühl heraus für rechte Parolen empfänglicher waren. Zunehmend erfahren Menschen offenbar nicht die Wertschätzung, die sie sich erwünschen. Ich glaube nicht, dass es eine gänzlich neue Strömung ist. Vielleicht brechen jetzt zum Teil auch Dinge auf, die es vor 20 Jahren schon gegeben hat, sich die Menschen aber nicht getraut haben, diese Gedanken laut zu äußern.
Was ermutigt die Menschen, ihrer Meinung nun freien Lauf zu lassen?
Toporowsky: Es ist viel einfacher, in Sozialen Netzen anonym seine Meinung kundzutun, ohne Sorgen vor Konsequenzen haben zu müssen. Ein großer Beschleuniger ist die AfD, die rechtspopulistische und zum Teil rechtsextremistische Parolen verbreitet und dies als moralisch gut verkauft, indem man sich auf das hohe Gut der Meinungsfreiheit beruft. An vielen Stellen herrscht eine Unsicherheit, das Gefühl: „Irgendwas kippt gerade.“ Es ist eine große Herausforderung, aber entscheidend wichtig, dass eine Gesellschaft trotz aller Selbstoptimierung und der Optimierung von Prozessen immer auch den Wert eines jeden einzelnen Menschen im Blick hat und Politik dafür eine Verantwortung trägt. Viele Menschen tun sich schwer mitzuhalten, werden abgehangen. Wir müssen immer wieder neu lernen und uns immer wieder bewusst machen, dass jeder Einzelne das Recht hat, ein gutes Leben zu führen.
Wo tut sich Politik besonders schwer?
Toporowsky: Beispielsweise dabei, einen Mindestlohn zu definieren, der garantiert, dass Menschen nach einem harten Arbeitsleben auch von ihrer Arbeit leben können. Manche Probleme sind aber auch sehr komplex. Da fällt es leichter, einfache Lösungen zu wählen, die angeblich und scheinbar Menschen diese vermisste Wertschätzung geben. Es ist eine Herausforderung von Politik und Kirche, Menschenwürde nicht nur zu propagieren, sondern auch die konkrete Umsetzung im Blick zu haben. Vor allem im wirtschaftlichen Bereich ist die Gesellschaft zu weit auseinandergedriftet.
Wie kann Wertschätzung wieder hergestellt werden?
Toporowsky: Im sozialen Bereich beispielsweise, aber auch im pädagogischen Bereich. Wir müssen den Betreuungsbedarf weiter ausbauen, sei es bei Krankheit und Alter, aber auch in der Bildung. Hier fehlen ganz oft Förderung und Begleitung. Das fängt in der Kita an, wo es kaum eine Einrichtung gibt, die nicht über Personalmangel und angespannte Arbeitsbedingungen klagt. Später im Leben gibt es diese Lücken bei der Pflege und im Krankheitsfall. Politik muss gewährleisten, dass alle Menschen das Gefühl haben, gut versorgt zu sein. Gerade ist die Gefahr groß, dass es kippt.
Kann es nicht sein, dass wir Jahrzehnte über unsere Verhältnisse gelebt haben?
Toporowsky: Vermutlich liegt die Antwort in der Mitte. In manchen Bereichen haben wir über unser Verhältnisse gelebt. Aber als Gesellschaft haben wir zu wenig in das Soziale investiert, zu viel in wirtschaftliche Produktivität und Gewinnmaximierung. Jetzt sehen wir die Folgen, auf ganz unterschiedlichen Ebenen. Wir müssen mehr in die Entwicklung von Menschen investieren, auch in die seelische und charakterliche Entwicklung.
Was kann Kirche Ihrer Meinung nach für die Förderung der Menschenwürde tun?
Toporowsky: Wir brauchen Orte und Gelegenheiten, an denen wir den gegenseitigen Respekt und Menschenwürde einüben. Das klingt banal, aber ich glaube, dass es an diesem Punkt oft hapert, nicht nur bei jungen Menschen. Letztlich ist dies auch einer der Gründe, warum wir in Vogelsang tätig sind: Es ist ein Erfahrens- und Lernort. Aufgabe für Kirche ist, sich an Menschenrecht und Menschenwürde zu orientieren. Vogelsang ist einer der Orte, an denen wir als Kirche sichtbar Stellung nehmen, an dem ablesbar ist, wofür wir stehen und wo Menschen unser christliches Menschenbild erfahren und einüben können.