Wenn die Eltern alt werden, verändert sich das Verhältnis zu ihnen und damit auch die Liebe. Die Verantwortung wechselt die Seiten. Kinder müssen nun die Balance finden, ihre Eltern zu unterstützen, ohne ihnen Freiheiten zu nehmen. Gleichzeitig müssen sie sich von ihrer eigenen Rolle als Kind immer mehr verabschieden.
Das Gefühl der Geborgenheit ist immer noch da. Auch, wenn es schon Jahrzehnte her ist, dass Claudia Schmidt* aus dem Haus ihrer Eltern in ihre erste Studentenbude umgezogen ist. Sie weiß, wo sie in den Küchenschränken ihrer Eltern Tassen, Teller und Besteck findet. Sie greift zielsicher im Dunkeln nach dem Lichtschalter, der wegen eines Fehlers beim Bau des Hauses zu niedrig ist. Kein Ort außerhalb ihrer eigenen Wohnung ist ihr so vertraut, wie das Elternhaus. Und doch hat sich etwas verändert: Wenn Claudia Schmidt zu ihren Eltern fährt, dann ist sie heute diejenige, die fragt, ob alles gut ist und die anstehende Probleme löst.
Ob Arztbesuch, Störungen beim Internetanschluss oder Schwierigkeiten mit einer Versicherung: oft ist es die 55-Jährige, die ihre Eltern begleitet oder für sie irgendwo anruft, um Fragen zu klären und Lösungen zu finden. Früher haben die Eltern ihr bei den Hausaufgaben oder der Einrichtung einer Wohnung geholfen, heute hilft sie ihren Eltern, das Bett neu zu beziehen. Manchmal reicht ein guter Vorschlag, manchmal braucht es tatkräftige Hilfe – und oft viel Geduld auf beiden Seiten.
„Ich musste mir klar machen, dass meine Eltern mich nicht ärgern wollen, wenn sie mir immer wieder dieselbe Frage zum Umgang mit dem Computer stellen“, sagt die 55-Jährige. „Ihnen fehlt einfach die Übung.“ Vieles können die Eltern selber, aber wo ihre Grenze ist, ist manchmal schwer zu sagen. Es braucht Feingefühl, um zu bemerken, wie weit die Eltern alleine zurechtkommen. Wo liegt die Grenze zwischen Hilfe, Bevormundung und Überforderung? Mit zunehmendem Alter kommen Eltern und Kinder an diesen Punkt.
Dabei setzt die Veränderung schon lange ein, bevor die Eltern pflegebedürftig werden. Zuerst geht es für die Kinder darum, sich von den Eltern abzunabeln und ein eigenständiges Leben aufzubauen. Das geschieht in der Regel zu einem Zeitpunkt, an dem Eltern selbst noch mitten im Leben stehen. Sie sind selbst berufstätig, haben Hobbys, einen Freundeskreis und reisen.
Die Kinder meistern ebenfalls ihren Alltag: Sie ziehen in ihre eigene Wohnung, studieren oder machen eine Ausbildung und bauen ihre Karriere auf, viele gründen eine Familie. Die Begegnung mit den Eltern findet jetzt auf Augenhöhe statt. Die einen machen die Erfahrungen, die die anderen schon gemacht haben und dabei unterstützen können. Umgekehrt helfen die Jüngeren den Älteren bei neuen Entwicklungen wie zum Beispiel in der Kommunikation und erleichtern mit ihrem Wissen den Älteren den Zugang.
Das Marktforschungsinstitut Nordlight Research hat 2021 im „Trendmonitor Deutschland“ die Ergebnisse einer Umfrage veröffentlicht, die zeigt, dass zwei Drittel der Senioren von ihren erwachsenen Kindern im Alltag bei Verbraucherentscheidungen unterstützt werden. An der Spitze stehen dabei die Hilfe bei der Entscheidung über Telekommunikationsverträge mit 45 Prozent, gefolgt von Versicherungen (35 Prozent), Banken (32 Prozent) und die Instandhaltung von Wohnung und Haus (32 Prozent).
Mit zunehmendem Alter der Eltern bleibt es nicht mehr bei der Beratung. Die Kinder richten den Eltern Computer und mobile Geräte ein, mit deren Hilfe sie mit den Eltern kommunizieren. Über Video-Telefonie hält auch Claudia Schmidt den Kontakt zu ihren Eltern. „Das ist unheimlich praktisch, weil man damit kurz mal anrufen kann, um zu sehen, wie es ihnen geht und ob sie zurecht kommen“, sagt sie.
Aber nicht nur die praktischen Möglichkeiten schätzt Schmidt daran. „Mit den Tablets hat sich die Welt meiner Eltern wieder erweitert“, sagt sie. „Meine Mutter schaut sich andere Länder und Städte an, in die sie nicht mehr reisen kann. Mein Vater liest mehrere Zeitungen. Für uns Kinder bedeutet das auch eine Entlastung, weil unsere Eltern so ihren eigenen Interessen nachgehen können.“ Beide Seiten behalten auf diese Weise ihre Eigenständigkeit.
Zwar sind die Senioren, die digitale Medien nutzen, laut der Studie noch in der Minderheit. Nur gut ein Viertel der Senioren nutzt das Internet. Dabei sind die „jungen“ Senioren in der Altersklasse von 65 bis 74 Jahren mit 28 Prozent deutlich stärker in diesem Bereich engagiert als die „alten“ Senioren im Alter ab 75 Jahren. In dieser Gruppe nutzen nur 18 Prozent das Internet.
Mit der demografischen Entwicklung dürfte sich das stark wandeln und immer mehr Senioren auch neue Medien nutzen. So ist es Kindern auch möglich, ihre Eltern auf Distanz über viele hunderte Kilometer hinweg aktiv zu unterstützen. Um Probleme mit Verträgen kümmert sich zum Beispiel auch Claudia Schmidts Schwester, die im Ausland lebt. Erforderliche Unterlagen oder offizielle Schreiben bekommt sie per Scans zugeschickt, so dass sie auf dieser Grundlage Verhandlungen führen kann.
Auch wenn sich die Rollen zwischen den Generationen mit jedem Jahr weiter verschieben und sich damit das Verhältnis ändert, gibt es eines, was noch genauso ist wie früher. „Das Gefühl der Geborgenheit bei meinen Eltern ist nach wie vor da“, sagt Claudia Schmidt. „Wenn ich bei ihnen zu Besuch bin, dann ist mein Gefühl genauso, wie es früher war.“
*Name von der Redaktion geändert