Wie die Gewalt loswerden?

Ein Aachener Beratungsangebot hilft Paaren aus einer unheilvollen Spirale – zugunsten auch der Kinder

Gewalt_Nachricht (c) MarinaP/Shutterstock.com
Gewalt_Nachricht
Datum:
17. Jan. 2017
Von:
Rauke Xenia Bornefeld
Ein Wort gibt das andere, plötzlich fliegen Teller, dann Fäuste. Nicht nur einmal. In mancher Beziehung lässt sich Gewalt – psychische wie physische – kaum wegdenken.
Kempen (c) Rauke Bornefeld
Kempen

„Neue Wege gehen – häusliche Gewalt gemeinsam beenden“, ein Beratungsangebot des Sozialdienstes katholischer Frauen (SKF) in Aachen sowie des Katholischen Beratungszentrums Aachen, will aber genau das tun: Gewalt beenden, ohne die Partnerschaft aufzugeben.

 

Wer wird bei „Neue Wege gehen“ beraten und warum?

Alle Paare, die ihren Umgang miteinander weg von einem gewalttätigen hin zu einem konstruktiven Miteinander verändern wollen. „Wir brauchen eine andere Kommunikation“, ist meistens der Eindruck, den Mann und Frau haben. Zugleich wollen beide Partner keine Trennung. Sie suchen eine neue Grundlage für ihre Lebensgemeinschaft – ohne Gewalt. Das kann sowohl physische Gewalt wie auch psychische Gewalt sein. Schlagen, schreien, herabwürdigen – „jegliche Gewalt ist in ihrer Wirkung verheerend. Unserer Erfahrung nach tragen zur Eskalation beide Partner bei. Deswegen braucht es auch beide, um die Gewalt zu beenden“, weiß Michael Kempen, Psychologe und Systemischer Berater beim Katholischen Beratungszentrum. Gemeinsam mit Elsbeth Ostlender, Sozialpädagogin und Systemische Familientherapeutin beim SKF, bildet er das Beraterduo, das in den vergangenen zwei Jahren 35 Paare aus allen Gesellschaftsschichten in 160 Gesprächen beraten hat. In der Regel kamen die Paare vor der höchsten Gewaltstufe. Bei ihnen ist Gewalt spontan und situativ. Sie resultiert aus Überforderung und fehlenden Handlungsalternativen. Sie ist in der Beziehung noch nicht gänzlich etabliert. Auch wenn die Neuausrichtung der Partnerschaft das vorrangige Ziel ist, war bei einigen dennoch Trennung die Lösung.

 

Wie erleben Kinder die Gewalt zwischen ihren Eltern?

Auch wenn die Eltern versuchen, nicht vor ihren Kindern zu streiten und Kinder selbst nicht Opfer der Elterngewalt werden, nimmt eine von Gewalt geprägte Elternbeziehung unweigerlich Einfluss auf die Entwicklung von Kindern. Gefühle von Hilf- und Wertlosigkeit, Angst, Scham und das Gefühl von Ohnmacht – solche Emotionen entstehen auch, wenn Kinder Streit und Schläge „nur“ durch die Zimmerwand erleben. „Diese Gefühle nehmen schädlichen Einfluss auf die Selbstwertentwicklung der Kinder“, erläutert Ostlender. Ändern die Eltern aber etwas in ihrem Umgang miteinander in konstruktiver Art und Weise, profitieren auch die Kinder davon. „Sie spüren, dass Veränderung möglich ist, und sie lernen, selbst Konflikte angemessen und gewaltfrei zu lösen“, so Ostlender. Hat das Paar Kinder, ist zudem die Bereitschaft, die Paarbeziehung zu retten, größer. „Personen, die einem so nahe stehen wie die eigenen Kinder, erhöhen die Motivation ungemein, aus der Gewalt auszusteigen“, bestätigt Kempen. Denn einfach ist der Wandel nicht. „Es erfordert Mut und ist viel Arbeit.“

 

Welche Zahlen gibt es zum Thema „Häusliche Gewalt“?

Im Jahr 2015 stellte die Polizei in der Städteregion Aachen 860 Strafanzeigen wegen häuslicher Gewalt. In 605 Fällen wurde der Täter der Wohnung verwiesen. 65 Frauen und 56 Kinder suchten im gleichen Jahr Schutz im Aachener Frauen- und Kinderschutzhaus. Doch nur etwa 50 Prozent der Opfer gingen danach zu einer der klassischen Beratungsstellen wie dem Aachener Verein „Frauen helfen Frauen“. Viele scheuen die Trennung vom gewalttätigen Partner: wegen der Kinder, wegen des Geldes, wegen der nach wie vor gefühlten Liebe, aus Scham. Diese Erfahrung hat auch Beraterin Elsbeth Ostlender gemacht, die neben der Beratungstätigkeit für „Neue Wege gehen“ auch im Frauen- und Kinderschutzhaus des SKF arbeitet: „Sie wollen die Gewalt, nicht aber die Partnerschaft beenden.“ Bei den Bewohnerinnen von Frauenhäusern setzte das Vorbild-Projekt „Jetzt mal anders“ aus Berlin an. Eine Auswertung ergab aber, dass sich von diesem Beratungsmodell Paare angesprochen fühlten, in der die Gewalt noch nicht so extrem etabliert ist – das Modell also eher präventiv wirkt.

 

Wann wird aus einem Streit zwischen Partnern Gewalt?

Partnerschaft ohne Streit ist nicht nur eine Illusion, sie ist auch kein erstrebenswerter Zustand. Konflikte bedürfen einer Auseinandersetzung, um eine Lösung zu finden. „Ist Streit aber eine dauerhafte Situation, belastet er alle Familienmitglieder, auch die Kinder, und ist ein Ausstieg daraus nicht möglich, weil sich andere Optionen der Konfliktlösung nicht eröffnen, werden oft eigene Grenzen und auch die des anderen missachtet – dann können wir von Gewalt sprechen“, meint Ostlender. „Die Paare, die wir beraten, können in Streitsituationen nicht aufhören, sie verlieren die Kontrolle über ihre Worte, über ihr Handeln. Sie können nicht aus der Streitdynamik aussteigen, die Eskalationsspirale dreht sich immer weiter.“

 

Wie wird bei „Neue Wege gehen“ beraten?

Allparteilich, lösungsorientiert, vertraulich, kostenfrei – so beschreiben Ostlender und Kempen ihre Beratungspraxis. In der Regel gibt es zehn Beratungsgespräche in einem 14-tägigen Rhythmus. Diese zeitliche Begrenzung dient vor allem dem Vorbild, denn oft fehlt den Ratsuchenden die Fähigkeit, deutliche Grenzen zu setzen. Dennoch passt das Beraterduo die Beratungsdauer und -häufigkeit den individuellen Bedürfnissen des Paares an. „Deutliche Grenzen setzen mit einer gewissen Durchlässigkeit – dieses Vorbild wollen wir geben.“ Denn auch „mal fünfe gerade sein zu lassen“, beherrschen die Paare oft nicht.

 

Wie finden die Paare aus der Gewaltspirale heraus?

In einem Vorgespräch lernt das Paar das Beraterteam kennen. Anschließend gehen alle vier einen Vertrag ein, der die Zusammenarbeit besiegelt. So wollen Ostlender und Kempen die Mitarbeit beider Partner an dem auf Freiwilligkeit basierenden Angebot sicherstellen. Anschließend beraten sie das Paar immer gemeinsam. In der ersten Viertelstunde können die Ratsuchenden in einem geschützten Gespräch ohne den Partner sensible Themen mit nur einem Berater besprechen. „Sie haben eine hohe Sensibilität füreinander, oft auch Angst voreinander. Jeder weiß, was den anderen auf die Palme bringt. Da ist es leichter, kritische Themen zunächst allein anzusprechen“, begründet Kempen. Indem die Beratungskonstellationen immer wieder getauscht werden, vermeiden die Berater den Eindruck der Parteinahme. Gleichzeitig versuchen sie, das Paar aus der Schleife von Kritik und Rechtfertigung zu holen. „Wir versuchen, mit ihnen herauszufinden, was noch gut an der Partnerschaft ist. Wir wollen die verloren gegangene Wertschätzung füreinander wiederbeleben“, so Ostlender.

Ostlender (c) Rauke Bornefeld
Gewalt (c) MarinaP/Shutterstock.com