„Wer Frieden will, muss die Demokratie stärken“

Doch nicht jeder, der demokratisch gewählt wird, ist ein Demokrat. Martin Schulz fordert im Gespräch mit der KirchenZeitung eine klare Kante gegen Rechtspopulisten

Ein Mann klarer Worte: Für Martin Schulz (hier bei der Verleihung des Karlspreises 2024 an Pinchas Goldschmidt) sind die europäischen Ideen aktueller denn je. (c) Bistum Aachen/Andreas Steindl
Ein Mann klarer Worte: Für Martin Schulz (hier bei der Verleihung des Karlspreises 2024 an Pinchas Goldschmidt) sind die europäischen Ideen aktueller denn je.
Datum:
29. Mai 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 22/2024 | Stephan Johnen

Zum zehnten Mal wählen die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union das Europäische Parlament, rund 350 Millionen wahlberechtigte Menschen sind vom 6. bis 9. Juni aufgerufen, ihre Stimme abzugeben. In Deutschland stehen am Sonntag, 9. Juni, die Wahllokale offen. Es gibt Prognosen, die zunehmend die rechtspopulistischen und europakritischen Parteien auf der Erfolgsspur sehen. Wie lebendig ist die europäische Idee noch? Wie sehen die aktuellen Herausforderungen aus – und wie kann ihnen gemeinsam begegnet werden? 

Quo vadis, Europa?  Darüber haben wir mit Martin Schulz, dem ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments und Vorsitzenden der Friedrich-Ebert-Stiftung, gesprochen.

 

Herr Schulz, werden die Rechtspopulisten die Gewinner der kommenden Europawahl sein?

Ich bin da nicht so besorgt. Die Rechtspopulisten werden in den entscheidenden Gremien keinerlei blockierenden Einfluss nehmen können. Wir sollten und dürfen den Einfluss dieser Parteien und Strömungen nicht übertreiben. Die überwältigende Mehrheit der Europäerinnen und Europäer sind Demokraten.

 

Ist die Warnung vor Rechtspopulisten eine Übertreibung?

In Frankreich und Italien haben Marine Le Pen und Giorgia Meloni schon deutlich an Stimmen gewonnen und werden vermutlich noch etwas zulegen. Ich sehe aber jetzt keine Welle, die durch ganz Europa rauscht. In Spanien und Portugal sind die Rechtspopulisten zuletzt deutlich hinter den vorherigen Wahlergebnissen geblieben. In Polen, in einem ganz wichtigen Land für die Europäische Union, wird Jarosław Kaczy´nski sicher keine Zuwächse mehr haben. Auf die 720 Abgeordneten des Europaparlaments umgelegt, werden die Rechtspopulisten vermutlich stärker werden, das ist schon aufgrund des proportionalen Wahlsystems zu erwarten. Damit reflektiert das Europaparlament das, was sich bereits auf den jeweiligen nationalen Ebenen abzeichnet. Aber es wird auch nach dem 9. Juni eine ganz klar proeuropäische Mehrheit bestehen.

 

Die Zahl der Demokratien weltweit sinkt, ein Drittel der Menschen wird bereits von autoritären Systemen regiert. Erleben wir den Beginn einer post-demokratischen Ära?

Die Gefahr ist da, die Einschätzung teile ich. Dies mag auch am immer selbstbewussteren Auftreten antidemokratischer Parteien liegen. Mir werden nahezu wöchentlich Studien auf den Tisch gelegt, die sich mit Zuwächsen dieser Parteien befassen. Wenn eine rechtspopulistische Partei bei einer Wahl 15 Prozent der Stimmen bekommt, ist sie durchaus eine starke Kraft. Umgekehrt heißt das aber auch, dass 85 Prozent der Menschen diese Partei NICHT gewählt haben. Das sollten wir nicht außer Acht lassen, sonst verfestigen sich selbsterfüllende Prophezeiungen à la „Immer mehr Menschen wenden sich von der Demokratie ab.“ Fakt ist: Die meisten Menschen stimmen der Demokratie zu. 

 

Was ist mit denen, die sich selbst als wahre Kämpfer für die Demokratie sehen und alle anderen demokratischen Kräfte und Prinzipien infrage stellen?

Es gibt einen Kern derer, die offenbar nicht mehr für die Demokratie zurückgewonnen werden können. Dieser Kern erhärtet sich, die Menschen leben in der eigenen Blase. Das ist für die Demokratie gefährlich.

 

Wie kann sich die Demokratie davor schützen?

Anstatt zu versuchen, für diese Menschen wieder attraktiver zu erscheinen, könnten demokratische Parteien das Problem ganz simpel politisch lösen. Wir diskutieren immer über diesen merkwürdigen Begriff der Brandmauer. Wir brauchen eine absolut nicht umkehrbare Übereinstimmung der demokratischen Parteien, dass sie diesen Leuten keinen Zugang zur Macht gewähren. Nicht jeder, der demokratisch gewählt wurde, ist ein Demokrat.

 

Wie würde vor diesem Hintergrund Ihre Botschaft an die Wähler der AfD lauten?

Du kannst die AfD wählen, aber du wirfst deine Stimme weg. Wenn du mit etwas unzufrieden bist und etwas verändern willst, hat es keinen Sinn, diese Parteien zu wählen. Es war ein gutes Zeichen von Friedrich Merz, auf der Bundesebene mit Blick auf eine mögliche Zusammenarbeit mit der AfD zu sagen: Mit mir nicht, definitiv nicht. Ich nehme diese Ernsthaftigkeit der CDU auf Bundesebene ab.

 

Und in den Kommunalparlamenten und Landtagen?

Die CDU wäre gut beraten, diese Linie einheitlich konsequent durchzusetzen. Das Argument, wenn Abgeordnete demokratisch gewählt wurden, muss man sie auch mitnehmen, zieht nicht. Dann muss man sich immer vor Augen halten, dass dann Menschen vom Format eines Herrn Höcke in Regierungen sitzen könnten. Wer nicht will, dass Typen, die sich aus Moskau bezahlen lassen, diese Republik regieren, muss konsequent sein und sie isolieren. 

 

Machen es sich die etablierten Parteien oft zu leicht, wenn sie von Protestwählerinnen und -wählern sprechen?

Meine politische Erfahrung lehrt mich, dass es Protestwählerinnen und -wähler gibt. Hier wird das Kreuzchen aus reinem Protest gesetzt, diese Menschen haben „die Schnauze voll“. Mal wird Bündnis Sahra Wagenknecht gewählt, dann die AfD. Diese Leute kannst du aber ins demokratische Lager zurückholen. Es gibt nicht nur Protestwähler, es gibt auch den Protest-Umfrage-Bürger.

 

Wie mischt dieser Typus denn mit?

Der Protest-Umfrage-Bürger antwortet auf die Frage „Wenn am Sonntag Wahl wäre“ ganz schnell ganz emotional, wenn ihm etwas zuvor nicht gepasst hat, beispielsweise die Rente nicht so erhöht wurde, wie erhofft. In solchen Situationen wird ganz schnell etwas gesagt, was sich dann in der Auswertung von Umfragen wiederfindet. Ich bin daher ein großer Anhänger folgender Aussage: Die wichtigste Umfrage ist die am Wahltag.

 

Wie können unzufriedene Bürgerinnen und Bürger wieder „zurückgewonnen“ werden?

Ganz allgemein ist die Volatilität von Wählerinnen und Wählern in den vergangenen Jahren gestiegen. Nur weil der Ur-opa schon die SPD gewählt hat, tun dies die Nachkommen nicht zwingend. Die Volksparteien müssen immer aufs Neue um Vertrauen werben. 

 

Wie kann das funktionieren? Scheint ja nicht so leicht zu sein …

Indem man sagt, was man tut. Und tut, was man sagt. Das ist eines der größten Probleme: Alle sagen, was sie tun wollen, praktizieren aber gelegentlich das Gegenteil und können sich gefühlt auf nichts einigen. Das schreckt manche Leute ab. Themen, die Menschen bewegen, gibt es auch bei dieser Europawahl genug. Kriegsangst, Friedenssehnsucht, politische und ökonomische Sicherheit, ein möglicher „Green Deal“, die Landwirtschaftspolitik. In diesem Wahlkampf erlebe ich ganz stark, dass es den Leuten um Frieden und soziale Sicherheit geht. Sie spüren, dass sich die Welt fundamental verändert, aber sie möchten auch konkrete Lösungsvorschläge.

 

Sind wir mit Blick auf den Konflikt in der Ukraine kriegsmüde und riskieren damit auch ein Stück der Zukunft Europas?

Wir sind nicht kriegsmüde, aber viele kennen den Krieg nicht. Darin liegt die größte Gefahr. Meine Generation wurde nach dem Krieg geboren. Mit dem Verblassen von Terror und Krieg verblasste in den letzten Jahrzehnten auch das Bewusstsein, dass das Ausbleiben von Krieg keine Selbstverständlichkeit ist, sondern politisch und diplomatisch ausgehandelt werden muss. Wir befinden uns schon in einer Zeitenwende. Wer Frieden will, muss Demokratien stärken. Autokratien können leichter Krieg führen als Demokratien – und deswegen tun sie es dann auch. 

 

Wie lebendig ist die europäische Idee noch?

Demokratie und Frieden durch Wohlstand und Diplomatie, Verschränkung unserer kulturellen, sozialen und ökonomischen Stärken auf transnationaler Ebene – diese europäischen Ideen sind aktueller denn je. Ich empfehle den Blick nach Asien, Afrika oder Lateinamerika, um zu begreifen, wie wertvoll das Prinzip ist, dass Staaten und Nationen über Grenzen hinweg zusammenarbeiten, statt Grenzen mit Gewalt zu verschieben und Völker aufeinanderzuhetzen.

 

Droht der politische Diskurs auch bei uns im Land zu verrohen?

Die Verrohung des Diskurses führt irgendwann zu Gewalt. Aus Worten werden irgendwann Taten. Die Welt ist voll von Hetzern, Pöblern, Aggressiven und Respektlosen, die sich im Netz austoben und das auch können, ohne zur Rechenschaft gezogen zu werden. Wir erlauben eine Atmosphäre, in denen Leute Politiker physisch angreifen – und damit die Demokratie angreifen. Ich bin für die Schaffung eines Straftatbestands, der solche Versuche unter Strafe stellt. Werden Menschen wie zuletzt etwa mein Kollege Matthias Ecke so angegriffen, müssen die Täter die volle Härte des Gesetzes zu spüren bekommen.