Den Volksparteien laufen die Wählerinnen und Wähler weg, nicht nur in Umfragen gewinnen rechtspopulistische Parteien wie die Alternative für Deutschland (AFD) hinzu. Verlieren die demokratischen Parteien massiv an Bedeutung? Ist unser demokratisches System in Gefahr? Und wie lässt sich dieser Trend umkehren?
Auf eine schwere Frage gibt es eine einfache Antwort: „Demokratische Parteien müssen einfach gute Politik machen“, sagt Politikwissenschaftler Dr. Mahir Tokatli vom Institut für Politikwissenschaft an der RWTH Aachen University im Gespräch mit der KirchenZeitung.
Wie genau das geht? Darin liegt die Krux. Eine einfache Antwort gibt es hier nicht, auch keine Patentlösung für ein komplexes Problem. Aber durchaus ein paar Ideen, Anregungen und Kritikpunkte.
Eins vorweg: Eine Politik, von der alle Menschen uneingeschränkt und gleichermaßen profitieren, gebe es nicht. Sehr wohl aber könne „gute Politik“ die extremen und populistischen Strömungen in einer Gesellschaft kleinhalten und begrenzen. „Politik muss nicht nur verständlich sein, sie muss auch die Lebenswirklichkeit der Menschen berühren und für sie Relevanz haben“, versucht Mahir Tokatli eine Erklärung, warum die AFD – aber auch das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) – bei den kommenden Landtagswahlen in Thüringen und Sachsen absehbar zu den größten Gewinnern zählen dürften.
„Ein Parteiensystem muss auf die Nachfrage der Bürgerinnen und Bürger reagieren“, sagt Tokatli. Erstmals in der Finanz- und Wirtschaftskrise habe die AFD geschafft, die Verunsicherung vieler Menschen auszunutzen, indem sie als einzige Partei andere Antworten gab und sich klar gegen die Rettungsschirme positionierte. „Unterschiedliche Meinungen sind Teil des politischen Diskurses“, stellt Tokatli klar.
Aber es falle schon auf, dass die AFD meist (Anti-)Positionen vertritt, die sonst von keiner Partei vertreten werden. Die gleiche Strategie fuhr und fährt die AFD bei den Themen Covid 19, Ukraine-Krieg und der Haltung zu Russland. Spätestens nach der „Entmachtung“ des AFD-Gründers Bernd Lucke kam es dann endgültig und offensichtlich zum Rechtsruck, bis hin zu einem „nachweislich antidemokratischen“ Handeln der Partei.
Auch das BSW besetze und bediene eine Nische auf der Nachfrageseite der Bürgerinnen und Bürger – auf einer ökonomischen Achse weit links orientiert, auf der kulturellen Achse mit klar konservativer Haltung positioniert. Eine Aufstellung, die durchaus Erfolg an den Wahlurnen haben dürfte.
Mit Blick auf die aktuellen Umfragen geht der Politikwissenschaftler davon aus, dass das BSW auf jeden Fall aus dem Stand in Sachsen und Thüringen in die Landesparlamente einzieht. „In Thüringen könnte die AFD stärkste Partei werden; in Sachsen auch. Das sind besorgniserregende Zahlen“, hofft Tokatli darauf, dass SPD und Grüne es trotz des prognostizierten Sinkflugs in der Wählergunst es in die Landtage schaffen – als stabilisierendes demokratisches Moment.
Die Frage, ob die „Brandmauer“ gegen die AFD in den ostdeutschen Bundesländern halten wird, sei spannend. „Ich kann mir auch nur relativ schwer vorstellen, dass sich die CDU darauf einlässt und mit der AFD eine Koalition eingeht“, sagt der Politikwissenschaftler, der sich nur ungern daran erinnert, dass es Thüringen war, wo die NSDAP 1932 erstmals Regierungsverantwortung übernahm.
Während die demokratischen Parteien der AFD noch halbwegs geschlossen Paroli bieten, hätte es die rechtspopulistische AFD bereits geschafft, in Teilen der Bevölkerung salonfähig zu werden. Eine Entwicklung, die mit Blick auf Europa oder das Erstarken Trumps in den USA sehr spät in Deutschland eingesetzt habe. „Wir hatten lange Zeit eine Sonderstellung und bekommen den Rechtspopulismus erst spät mit. Die Republikaner konnten sich in den 1980er-Jahren nicht durchsetzen, die Lehren aus der NS-Zeit waren noch sehr präsent, es gab viele Tabus, die nicht angetastet worden sind“, blickt der Wissenschaftler zurück.
Spätestens mit dem Wandel von der „Lucke-AFD“ zur „Höcke-Partei“ sei der Immunschutz aufgeweicht, rassistische Thesen und antidemokratisches Handeln zunehmend salonfähig. „Im europäischen Vergleich befinden wir uns nun leider in einer gewissen Normalität“, bilanziert Tokatli. Umso wichtiger sei es, die Werkzeuge einer wehrhaften Demokratie auch zu nutzen. „Wir müssen ernsthaft ein Parteiverbot debattieren. Die AFD agiert nachweislich antidemokratisch“, sagt er. „Wenn wir abwarten, kann es für die Demokratie zu spät sein. Leider wissen wir erst, dass die Demokratie funktionierte, wenn sie nicht mehr funktioniert“, sagt er mit Blick auf die Stürmung des Kapitols in den USA.
Falle die Macht erst einmal in die falschen Hände, würden Rechtspopulisten die Macht nicht mehr abgeben wollen. Ob in Ungarn oder der Türkei: „Eine Verfassung lässt sich ändern“, sagt Tokatli. Auch in den USA sei das Ergebnis der Wahlen im November offen. „Wenn Trump gewählt wird, wird die Demokratie leiden“, mutmaßt der Wissenschaftler. Ob die Demokratie eine zweite Amtszeit Trumps überlebt?
Tokatli: „Wenn, dann mit erheblichen Wunden.“ Teil der Politik und Strategie der AFD (und in rechtsextremen Kreisen) sei es, schleichend die Kultur verändern zu wollen. „Remigration bedeutet im AFD-Kontext nichts anderes als Deportation. Früher wäre eine solche Formulierung ein Tabu gewesen, heute ist es irgendwie normal, dass dieses abscheuliche Wort in Interviews genutzt wird“, nennt Mahir Tokatli ein Beispiel.
Schlimmer noch: Neben dem gesellschaftlichen Wandel gebe es einen politischen Wandel, über Sprache werde festgesetzt und normalisiert, was Rechtspopulisten gerne als politische Realisation hätten. Sprechen dann der Bundeskanzler und andere demokratische Politiker beispielsweise davon, mehr abschieben zu müssen, sei diese „Übernahme der Sprache“ die denkbar schlechteste Taktik.
Tokatli: „Im Zweifel wählen Wählerinnen und Wähler lieber das Original.“ Wobei wieder die Frage nach „guter Politik“ ins Spiel kommt – auch in Abgrenzung gegen Populisten und Extremisten. „Demokratische Parteien müssen klar unterscheidbar, erkennbar und identifizierbar sein. Die CDU darf auch konservative Positionen besetzen, die SPD darf sozialdemokratisch sein“, sagt Tokatli.
Aus Sicht der Wählerinnen und Wähler hätten sich aber viele Parteien „auf Kosten der Regierungspolitik abschleifen lassen“, gebe es mehr parteistrategische Gründe für Entscheidungen als eine Berücksichtigung des Willen der Wählerinnen und Wähler. Hinzu komme, dass selbst gute Politik relativ schlecht verkauft und zu selten verständlich erklärt werde. „Hier hat die AFD einen klaren Vorteil: Sie geht nicht mit einem fertigen Produkt in den Wahlkampf, sondern verkauft Versprechungen, spielt mit den Ängsten. Sie muss nicht mit Realitäten arbeiten, sondern bedient Gefühle.“
Eine Lösung des Dilemmas könnte durchaus die Arbeit mit demokratischen Minderheitsregierungen sein – die geschlossen gegen Rechtspopulisten stehen, aber mit wechselnden demokratischen Mehrheiten Entscheidungen treffen, die das eigene Profil wahren und den Markenkern schärfen. „Diese Form des Regierens hat sich in vielen skandinavischen Ländern bewährt. Es ist kein Zeichen der Schwäche, keine absoluten Mehrheiten zu haben, sondern ermöglicht Flexibilität.“