Wenn der Winter kommt

Ein Tag in der Krefelder Bahnhofsmission auf Bahngleis 1

Als hauptamtliche Mit- arbeiterin arbeitet Sozialpädagogin im Studium Sophie Bollmann (l.) in der Bahnhofsmission und wird vom Bundesfreiwilligendienstler Marvin Bollig unterstützt. (c) Ann-Katrin Roscheck
Als hauptamtliche Mit- arbeiterin arbeitet Sozialpädagogin im Studium Sophie Bollmann (l.) in der Bahnhofsmission und wird vom Bundesfreiwilligendienstler Marvin Bollig unterstützt.
Datum:
7. Jan. 2020
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 02/2020 | Ann-Katrin Roscheck

Draußen ist es kalt, der Atem malt Muster in den dämmernden Nachmittag, während die tief stehende Sonne eine frostige Nacht ankündigt. Auch der nikotingetränkte Atem des Punkers mit der Lederjacke scheint fast zu gefrieren, als er ihn durch die geöffneten Lippen freilässt.

Wer in die Bahnhofsmission kommt, benötigt kein Geld. (c) Ann-Katrin Roscheck
Wer in die Bahnhofsmission kommt, benötigt kein Geld.

Lässig lehnt er an der Hauswand und blickt durch die großen Fenster. Er beobachtet eine alte Frau mit dicker Mütze und schmutzigem Strickschal, die vorsichtig beide Hände um eine Kaffeetasse legt. Neben ihr schlägt sich ein Bärtiger mit stahlblauen Augen auf die Schenkel, sein Gegenüber scheint einen guten Witz zum Besten zu geben.

Es ist ein typischer Nachmittag in der Krefelder Bahnhofsmission: Als Schutz vor der Kälte, als Versteck vor verletzenden Blicken und als Begegnungsstätte für diejenigen, die sonst im Stadtleben unsichtbar scheinen, ist sie in manchen Bistumsstädten eine wichtige Anlaufstelle. Gleichzeitig assistieren die ehrenamtlichen Mitarbeiter am Bahnsteig denjenigen, die nicht mehr so gut können: Sie geleiten alte Menschen zum Anschlusszug und stehen für Fragen rund um den Fahrplan bereit. In Krefeld öffnet die Bahnhofsmission fünf Mal in der Woche auf Gleis 1 ihre Türen und zieht täglich bis zu 100 Menschen an. „Es ist nicht wichtig, wie jemand riecht, ob jemand abhängig ist, ob er seinen Kaffee bezahlen kann oder ob er das Ende des Tages in der Notschlafstelle verbringt“, beschreibt Sophie Bollmann als einzige feste Mitarbeiterin der Bahnhofsmission. „Wichtig ist, dass er hier ein offenes Ohr findet und jemanden, der ihn mit all seinen Anliegen wahrnimmt.“ 

Auch der 42-jährige Aytekin hat in der Ecke des Raumes am Fenster Platz genommen. Kürbisse und ein Teelicht liegen auf dem Tisch, verleihen der Bahnhofsmission eine wohnliche Atmosphäre. Seit rund vier Jahren käme der Krefelder hier jeden Tag hin, erzählt er schüchtern und legt sein Buch aus der Hand. Der Kaffee schmecke gut, und es sei warm, fährt er fort. „Außerdem behalten die Mitarbeiter die Sachen, die ich ihnen erzähle, für sich. Das ist wichtig.“ Es gibt immer wieder Phasen, in denen Aytekin nicht reden möchte. Dann gibt es aber auch Tage, an denen er jemanden braucht, der ihm zuhört und ihn unterstützt. Mehrere Male war der 42-Jährige in den letzten Jahren obdachlos, erst seit zwei Monaten lebt er wieder auf der Straße. Nachts schläft er in der Notschlafstelle auf der Melanchthonstraße. 

„Solche Menschen wie Aytekin haben wir hier viele“, erzählt Bundesfreiwilligendienstler Marvin Bollig. „Für sie ist es schwierig, eine zuverlässige Kontaktperson zu finden, da springen wir ein.“ Hinzu kommt, dass viele der Gäste nicht lesen und schreiben können. Schon mit kleinen Alltagsaufgaben sind sie überfordert und vertrauen Bollig, Bollmann und den ehrenamtlichen Kollegen ihre Sorgen an. „Für uns sind zum Beispiel Kündigungen von Telefonverträgen schnell geschrieben und auch mit Anträgen können wir helfen“, beschreibt Bollmann als angehende Sozialpädagogin. „Dann gibt es aber auch die Fälle, die herausfordernd sind und die wir auch manchmal mit nach Hause nehmen.“

Dazu gehört zum Beispiel das Schicksal einer jungen Frau. Regelmäßig wird sie von ihrem Partner misshandelt und sucht die 22-Jährige als Vertrauensperson auf. „Wir können nur helfen, wenn jemand Hilfe annimmt. Hier bleibt uns nichts anderes übrig, als auf die Dame mit viel Fingerspitzengefühl einzureden“, erklärt Bollmann. „Ich kann ihr anbieten, Beratungsstellen mit ihr aufzusuchen, aber das Angebot anzunehmen, benötigt Zeit.“ 

Nicht immer kann die Bahnhofsmission helfen, gerade im Winter sind ihr oft die Hände gebunden. Wenn es kalt wird, Nachtfröste drohen, die Bahnhofsmission abends gegen 18 Uhr ihre Türen schließt und die Notschlafstellen überlastet sind, dann beginnt für viele Gäste auf der Straße die Gefahr. Aus den Hauseingängen werden sie vertrieben, das erzählt auch Aytekin, und wenn dann kein warmer Schlafplatz gefunden wird, kann das mit dem Tod enden. „Eigentlich trauern wir in jedem Jahr um einen Gast, der den Kampf gegen den Winter verloren hat“, erzählt die Sozialpädagogin traurig. „Im letzten Jahr erfror eine unserer älteren Besucherinnen in der Krefelder Bahnhofshalle.“ Heute erinnert ein Stein im Blumenbeet an die Verstorbene und reiht sich damit in den Erinnerungsgarten ein: Rita, Peter, Pivie oder Hans – auch wenn für den Durchschnittsbürger Obdachlose, Abhängige oder Bettler oft unsichtbar bleiben, werden hier die Menschen und ihre Besonderheiten auch nach ihrem Tod nicht vergessen. „Wir kennen unsere Pappenheimer und machen uns Sorgen, wenn jemand länger nicht auftaucht“, erklärt Bollig. „Hier entstehen Freundschaften.“ 

Auch Gottfried mit den stahlblauen Augen und George mit der fröhlichen Stimme haben sich auf Bahnsteig 1 kennengelernt und angefreundet. Jeden Tag sind die beiden Wohnungslosen zu Besuch in der Bahnhofsmission, unterhalten sich, wärmen sich auf und trinken gemeinsam Kaffee. Gottfried habe fünf  Kinder in den Niederlanden, erzählt er. „Da musst du unbedingt mal hin“, setzt George die Ziele hoch. Auch George hat Familie. „Das passt aber nicht, deswegen bin ich ja auch ausgezogen“, erklärt er. In seinem früheren Leben wirkte der Krefelder als Hochstaplerfahrer, heute hat er Schwierigkeiten, sich über Wasser zu halten. Er bräuchte zum Beispiel dringend neue Schuhe und eine neue Jacke für den Winter, gibt er an Bollmann weiter. „Wir haben keine Lagerkapazitäten und rufen deswegen nicht zu Kleidersammlungen auf“, erklärt die Leiterin. „Wenn Sachspenden bei uns abgegeben werden, freuen wir uns, wir geben sie dann direkt weiter. Da war George dieses Mal leider zu spät.“  Die Bahnhofsmission in Krefeld finanziert sich ausschließlich über Mittel der Diakonie sowie über Spendengelder.

Auf eine 125-jährige Tradition blicken die Bahnhofsmissionen in Deutschland zurück, Träger sind immer Einrichtungen der evangelischen und katholischen Kirche, die durch die Botschaft des Evangeliums jedem Menschen in jeder Lebenssituation mit gleich viel Würde und Wert begegnen möchten. Der warme Kaffee und das offene Ohr stellen da einen Anfang dar. Und dass das genutzt wird, zeigen nicht nur die unterschiedlichen Gäste in Krefeld, sondern auch der Kaffeekonsum am Bahngleis 1: Rund eine Tonne Kaffee verbrauchen allein die Krefelder im Jahr. „Wer uns eine Freude machen möchte, kann uns gerne Filterkaffee vorbeibringen oder auch Milch und Zucker“, erklärt Bollmann. „Und das Abgeben der Spende sollte genutzt werden, um Hemmschwellen zu überwinden. Vorurteile abzubauen, geschieht im Kleinen.“

Bahnhofsmission Krefeld,  Am Hauptbahnhof auf Gleis 1.  Öffnungszeiten: Mo bis Fr von 8 bis 12 Uhr,  Mo bis Do von 12.30 bis 18 Uhr,  Di von 18 bis 21 Uhr,  jeden letzten Samstag im Monat von 9 bis 12 Uhr. Die Bahnhofsmission ist dringend  auf der Suche nach ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Kontakt unter  Tel. 0 21 51/31 40 50.