Was am Lebensende trägt

Gedanken zu Spiritualität in der Sterbephase und zur Auferstehung

(c) Leo Wieling/unsplash.com
Datum:
28. März 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 13/2024 | Veronika Schönhofer-Nellessen

Als ich 14 Jahre alt war, starb in einer Nachbargemeinde ein Mann im Alter von 65 Jahren. Er hatte eine zentrale Rolle in der Gemeinde gespielt und war ein tiefreligiöser Mensch. Seinen Glauben lebte er auf eine außergewöhnlich authentische Art und Weise in jedem Augenblick seines Lebens – so meine Wahrnehmung.

Seine Frau, ein für mich ebenso überzeugender inspirierender und warmherziger Mensch, war tief betroffen von seinem Abschied. Im Auferstehungsgottesdienst stand sie auf, ging zum Ambo und sagte nur diesen einen Satz: „Ich finde gerade keine Sprache für meinen Schmerz, aber ich möchte sagen, dass ich heute fester denn je an die Auferstehung glaube.“ Alle Teilnehmenden des Gottesdienstes waren tief beeindruckt von ihrer Klarheit, ihrem Schmerz und diesem Zeugnis angesichts des Todes.

Heute bin ich in der Hospizarbeit und Palliativversorgung tätig. Ich bin 60 Jahre alt und eine große Zeitspanne liegt zwischen der beschriebenen Geschichte und heute – anders ausgedrückt – viel Lebenserfahrung sowie Höhen und Tiefen in meiner Glaubensbiographie sind jetzt ein Teil von mir. Ich habe die große Freude, mich noch mitten im Leben zu fühlen, und in meiner Arbeitswelt vielfältige Gestaltungsräume zu erleben.

In zahlreichen Fortbildungen (ein Schwerpunkt meiner beruflichen Tätigkeit) begegne ich Pflegekräften, Medizinern und Medizinerinnen, Seelsorgenden, Fachkräften aus dem psychosozialen Bereich und ehrenamtlichen Hospizbegleitern und -begleiterinnen. Ein Modul dieser Weiterbildungen zum Thema „Sterbe- und Trauerbegleitung“ beschäftigt sich mit der Begleitung von Krisen.

Veronika Schönhofer-Nellessen ist Leiterin des Bildungswerks Aachen und der Servicestelle Hospiz. (c) Alicia Steigerwald
Veronika Schönhofer-Nellessen ist Leiterin des Bildungswerks Aachen und der Servicestelle Hospiz.

Wie verstehen wir heute Krisen und wie stärken wir Menschen in ihrer letzten Krise? Krisenbewältigung gehört von Geburt an zu unserem Leben. Das Trotzalter, die Pubertät, Umbrüche, Abschiede und Neubeginne, hormonelle Veränderungen im Körper, verursachen immer wieder neue Krisen, die wir gleichzeitig auch als Wachstums- und Reifeprozesse verstehen können. Wir durchschreiten dabei immer wieder ähnliche Prozesse, die in ihrer Ausprägung durchaus individuell sind.

Zu Beginn einer Krise steht häufig das Nicht-Begreifen-Können des Neuen, was auf uns zukommt und unser Leben auf den Kopf stellt (zum Beispiel Verlusterfahrung). Im nächsten Schritt geht es um das allmähliche Begreifen der neuen Lebensrealität. Übertragbar ist dieser Prozess auf alle existenziellen Lebenskrisen. Manches Mal folgt daraufhin ein Rückzug von allen Bezügen, die uns sonst wichtig sind. In dieser Phase setzen wir uns innerlich mit wesentlichen Fragen auseinander, wie beispielsweise: Was ist jetzt noch wichtig? Was möchte ich anderen sagen? Möchte ich nochmal Kontakt zu Beziehungen aufgreifen, die verloren gegangen sind? Möchte ich mich entschuldigen oder bedanken? Mitten in der Krise überwältigen uns häufig Emotionen, die an dieser Stelle gleichzeitig unsere größte Ressource sind. Emotionen helfen uns, Krisen in unser Leben zu integrieren und weiterzugehen.

Nicht selten taucht nun auch die Frage auf: Was trägt jetzt beziehungsweise was gibt mir Halt? Diese Frage wird erwartungsgemäß individuell unterschiedlich beantwortet. Möglich ist auch, dass uns eher die Fragen umtreiben, als dass wir Antworten finden. Wichtige Bezugspersonen, so es sie gibt, sind häufig Teil dieser Antwort.

 

Gegen Ende einer Krise wird oft Bilanz gezogen: Was war bislang wichtig? Wovon möchte ich mich verabschieden? Wie möchte ich weitergehen? Krisen im Verlaufe unseres Lebens bereichern unseren Erfahrungsschatz. Sie prägen unsere Haltung dem Leben gegenüber und erweitern unsere Handlungsoptionen bei zukünftigen Herausforderungen. 
Was trägt, was gibt Halt in Zeiten von Umbrüchen, Abbrüchen und in Trauerprozessen? In diesen besonderen Lebenszeiten werden manches Mal neue, bisher unerkannte Seiten in uns geboren. 

Die Fähigkeit unserer Psyche, durch Krisen zu gehen, ist eine enorme archaische Leistung – individuell nach unserem Vermögen und nach unserem inneren Rhythmus. Eine wesentliche Rolle übernimmt an dieser Stelle ein stabiles soziales Netz, in dem wir eingebunden sind. Das zusammengenommen kann die  Grundlage sein, eine Krise in einen Wachstums- und Reifeprozess umzuwandeln. Das macht den Unterschied in einer verunsicherten krisenhaften Situation und auch in der letzten Krise ganz am Ende des Lebens. Schwer in Worte zu fassen, welche Rolle Glaube an Transzendenz und Spiritualität jetzt spielt.

In den letzten Stunden und Tagen ist immer wieder parallel dazu, dass Menschen aufhören zu essen und zu trinken, ein eher bildhaftes Wahrnehmen zu beobachten. Menschen sehen zum Beispiel nahe verstorbene Angehörige im Raum und fühlen sich von ihnen abgeholt. Eine junge Frau sagte in ihren letzten Stunden, während sie noch ansprechbar und orientiert war: „Ich brauche nur noch den Schlüssel, dann kann ich das Schloss da oben öffnen.“ (und zeigte auf den Himmel). Zuvor war es kein Thema gewesen, ob sie an ein Leben nach dem Tod glaubt. Mit Beginn des bildhaften Wahrnehmens kam eine neue Dimension in die letzten Stunden ihres Lebens hinein. Häufig kann man an dieser Stelle ein „In-die-Luft-Greifen“, das sogenannte „Nesseln“ beobachten. Für Menschen in der Sterbebegleitung ist das ein Signal, hier macht sich jemand auf den Weg auf seine/ihre letzte Reise …

Krisenbewältigung üben wir durch das ganze Leben hindurch. Wir sind gerüstet für die letzte Krise. Und sie bleibt einmalig, weil wir Abschied von allem nehmen. Es gibt kein „durch die Krise hindurch“ und dann geht es in diesem Leben wieder weiter. Das unterscheidet sie radikal von allen vorgehenden Krisen. Was trägt jetzt am Ende, wenn wir uns von allem verabschieden, was uns bisher wesentlich und existenziell war?
Menschen, die in Frieden, versöhnt, dankbar gehen können, sind für alle Anwesenden ein großes Geschenk. Es gibt Menschen, die gehen friedlich, obwohl sie nicht an ein Leben nach dem Tod glauben und es gibt Menschen, die gehen friedlich in der festen Überzeugung, in einem neuen Leben nach dem Tod anzukommen.

Was haben sie vielleicht gemeinsam? Ich denke, Urvertrauen in ein Leben, das für sie Sinn gemacht hat, in der sie Sinnstiftendes bewegen konnten. Darüber hinaus ist häufig trotz aller Widrigkeiten ein dankbarer Blick auf das eigene Leben zu beobachten. Urvertrauen, dass es am Ende gut wird. Urvertrauen auf einen gütigen Gott, Urvertrauen auf ein gutes Leben, das gütig gemacht hat. Gut heißt tatsächlich nicht immer erfolgreich. In der Retrospektive werden Höhen und Tiefen angenommen. Im Vordergrund steht ein versöhnter und gütiger Blick auf mich, auf das Leben und meine nahen Menschen. Ich habe nicht alles in der Hand – auch während meines Lebens. Aber eine Offenheit mitbringen für eine vierte Dimension, die trägt, das kann helfen …

Ich komme noch einmal auf die Ausgangsgeschichte zurück: Einige Jahre später ist die liebende Witwe auch verstorben und auch sie ist mit der tiefen Überzeugung gestorben, dass ihr Leben Sinn gemacht hat und dass sie Sinnstiftendes bewegen konnte. Diese beiden Menschen haben tiefe Eindrücke in mir hinterlassen. Sie haben dazu beigetragen, dass ich in herausfordernden Situationen darauf vertraue, dass es einen tragenden Grund gibt, der hält und größer ist als meine Zweifel.