Das Unbehagen, wie sich unsere Welt entwickelt, wächst. Auch unsere Art zu wirtschaften wird kritisch hinterfragt. Viele Menschen sind unzufrieden angesichts sozialer Ungleichheit, ökologischer Probleme, Klimawandel. Nachhaltigkeit ist das Zauberwort für die Zukunft. Wie lässt es sich in einem so komplexen Gebilde wie unserer Gesellschaft in die Tat umsetzen? Einen Vorschlag macht die Gemeinwohlökonomie – eine Bewegung, der sich jetzt auch kirchliche Einrichtungen und Organisationen aus dem Bistum Aachen anschließen.
„Wir steigern das Bruttosozialprodukt“, hieß ein Gassenhauer der Musikgruppe „Geier Sturzflug“ aus den 80-er Jahren. Das Musikstück nahm ironisch zugespitzt eine Grundhaltung aufs Korn, die wirtschaftliches Wachstum vor alles andere stellt. Auch Martina Dietrich hat ein Wachstum vor Augen. Allerdings meint die Expertin für Gemeinwohlökonomie ein anderes.
Was sich vermehren soll, ist die Lebenszufriedenheit aller Menschen, aufs Ganze betrachtet also das „Bruttosozialglück“. Geld ist hier weiter wichtig, aber nur als Mittel zum Zweck und nicht als Ziel, dem sich alles unterordnet. Wenn dem so ist, was steht dann an erster Stelle für diejenigen, die eine Firma, eine Einrichtung, eine Organisation leiten? Was macht den Erfolg aus, an dem sich eine solche Struktur messen lassen muss? Eine neue Art zu rechnen deutet die Bewegung an: nämlich zu überprüfen, wie im Alltag Grundwerte so gelebt werden, dass zwischenmenschliche Beziehungen gelingen und andere Nachhaltigkeitsziele ebenfalls erreicht werden.
Die Idee der Gemeinwohlökonomie ist, dass sich jede Firma, Einrichtung, Organisation in diese Richtung weiterentwickeln kann. Dafür stehen immer ausgefeiltere Werkzeuge zur Verfügung, mit denen sich der eigene Laden umfassend analysieren lässt. Eine komplexe Fülle von 20 Themenfeldern ist dafür die Folie, gebildet aus zweierlei. Zum einen gibt es die Grundwerte: Menschenwürde, Solidarität und Gerechtigkeit, ökologische Nachhaltigkeit sowie Transparenz und Mitentscheidung. Zum anderen gibt es die Gruppen, mit denen es diese Werte zu leben gilt: Lieferanten, Eigentümer, Mitarbeiter, Kunden und das gesellschaftliche Umfeld.
Bernd Bogert gehört zu den Vorreitern im deutschsprachigen Raum, die ihren Verantwortungsbereich einer solchen intensiven Selbstprüfung unterzogen haben. Er leitet die St. Gereon Seniorendienste in Hückelhoven. Ganz genau erinnert er sich noch an den mühsamen Prozess, von A bis Z durchzudeklinieren, wie man die genannten Grundwerte in einem Unternehmen leben kann.
Leitbilder haben viele, aber selbstkritisch zu untersuchen, wie sie konkret im Alltag umgesetzt sind, das machen wenige. Für jemanden wie Bogert, der schon lange und erfolgreich mit Herzblut unternehmerische und soziale Visionen verbindet, war es ganz schön ernüchternd zu erkennen, dass bei allem Idealismus viel zu tun bleibt. Genau das aber ist der Zweck von Gemeinwohlberichten und Gemeinwohlbilanzen, wie Martina Dietrich unterstreicht: Belegschaften und Führungskräfte sensibilisieren, inspirieren, orientieren. Nicht einmal das beste Unternehmen der Welt kann in allen Feldern perfekt sein, aber das Ideal gibt die Richtung vor, wohin sich der Betrieb entwickeln soll. Viele kleine und große Stellschrauben können helfen, dass sich etwas nachhaltig tut, in Lieferbeziehungen ebenso wie in der Kultur des Umgangs mit Mensch und Natur.
Die Idee dahinter: Je mehr mitmachen, umso eher strahlt der Wertewandel auf andere aus und gewinnt an Wirksamkeit. Auch kirchliche Organisationen können ihren Beitrag zu dieser Bewegung leisten, selbst Pioniere sein und sich am Gemeinwohl messen lassen. Katholische Arbeitnehmer-Bewegung, Bund katholischer Unternehmer und Nell-Breuning-Haus haben nun mit Interessierten eine Regionalgruppe gegründet, die den Gedanken im Bistum Aachen forcieren will. Ein inspirierter Kreis von gut vernetzten Leuten, der offen ist für weitere Mitstreiter.
Kontakt: Andris Gulbins, Tel. 02 41/40 01 80, andris.gulbins@kab-aachen.de