Verblasst das Vermächtnis?

Ganz offensichtlich reicht die Gedenkkultur an das deutsche Menschheitsverbrechen nicht aus

Konzentrationslager (c) Thomas Hohenschue
Konzentrationslager
Datum:
28. Jan. 2020
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 05/2020 | Kathrin Albrecht

Junge Menschen sollen aus der Geschichte lernen – das ist in Deutschland allgemeiner Konsens. Dass sich Auschwitz nicht wiederholen darf, diesen Grundsatz prägte in den 1960er Jahren der Frankfurter Philosoph Theodor W. Adorno als das Ziel aller Pädagogik.

Betrachtet man jedoch die Ereignisse des vergangenen Jahres, kann man sich des unguten Gefühls nicht erwehren, dass sich die Geschichte zu wiederholen scheint: Politiker, vor allem auf kommunaler Ebene, werden bedroht, etwa weil sie sich für Flüchtlinge einsetzen. Der traurige Höhepunkt dieser Entwicklung: die Ermordung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019. Im Oktober ist es in Halle an der Saale nur eine dicke Holztür, die verhindert, dass ein rechtsextremer Täter in der Synagoge ein Blutbad unter den Besuchern anrichtet, die sich dort versammelt hatten, um Yom Kippur zu feiern.

Was ist passiert? Funktioniert unsere Erinnerungskultur wirklich so gut, wie wir meinen? Und hilft sie, zu verhindern, dass sich Geschichte wiederholt? Es sind Fragen, die auch Meron Mendel beschäftigen. Seit 2010 ist der israelische Pädagoge Leiter der Anne-Frank-Bildungsstätte in Frankfurt am Main. In Aachen sprach er im Rahmen des Neujahrsempfangs der Bischöflichen Akademie zum Thema: „Aus der Geschichte gelernt? Warum uns die deutsche Erinnerungskultur nicht vor Rechtsextremismus und Antisemitismus schützt.“

Ein Titel, der eine Bestandsaufnahme schon vorwegnimmt und eine deprimierende Perspektive eröffnet. Mendel lebt seit 2001 in Deutschland. Wenn es um den Umgang der Deutschen mit ihrer jüngsten Geschichte geht, kann er nicht objektiv sein, erklärt er. „In Deutschland – aber auch in Israel – ist der Holocaust nach einem Wort Raul Hilbergs eine ,Familiengeschichte‘. Wenn wir Israelis und Deutschen über die Geschichte des NS reden, können wir nicht objektiv sein.“

Dabei läuft auf den ersten Blick alles gut: Mit Ausnahme der AFD gibt es eine parteiübergreifende Anerkennung der deutschen Verantwortung für die NS-Verbrechen, eine – wenn auch späte – Strafverfolgung der Täter, Entschädigungszahlungen an die Opfer und nicht zuletzt Gedenkstätten und Bildungsangebote. 550 offizielle Erinnerungsorte listet die Datenbank über die Opfer des Nationalsozialismus auf, hinzu kommen Mahnmale, sogenannte Stolpersteine und Gedenktafeln.

Doch lohne der zweite Blick. Mendel nennt als Beispiel die Eröffnung einer Gedenkstätte in Freiburg. Um an die 1938 zerstörte Synagoge zu erinnern, legte die Stadt einen Wassertisch in den Umrissen der alten Synagoge an. Am Einweihungstag war es heiß, die Bürger nutzten das Becken bald zur Abkühlung. Der „Erfolg“ der Gedenkstätte wurde getrübt durch die Kritik der jüdischen Gemeinde. Der Umriss des Beckens entsprach nicht den Umrissen der Synagoge. Reste der historischen Synagogenmauern, die bei den Arbeiten freigelegt wurden, entsorgte die Stadt gegen den Wunsch der Gemeinde. Eine bronzene Gedenktafel wurde liegend unter Wasser angebracht. Selbst bei ruhiger Wasseroberfläche sei der Text kaum lesbar. Gelinge es, werden weder die Shoa noch die Zerstörung der Synagoge angesprochen, sondern wird die „Herrschaft von Gewalt und Unrecht“ beklagt. Entkonkretisierung von Geschichte nennt Mendel diesen Vorgang. Dem Leser stehe es frei, auch Angehörige der Tätergesellschaft zu den Opfern zu zählen. Die Shoa werde nicht geleugnet, sondern durch Abstraktion und Trivialisierung in ein positives Selbstbild eingebaut.

Meron Mendel:
Was wird noch passieren, was wir für undenkbar halten?

In diese Richtung gehen auch Beobachtungen von Jens-Christian Wagner, Leiter der Gedenkstätte Bergen-Belsen, wenn er kritisiert, dass sich unsere Erinnerungskultur zu sehr auf die Opfer konzentriert (s. Druckausgabe S. 18). Bis heute ist die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit unbehaglich, zum Teil noch tabuisiert, denn auch auf deutscher Seite ist der Holocaust Familiengeschichte. In einer Studie gaben 70 Prozent der Deutschen 2019 an, ihre Vorfahren seien im Nationalsozialismus keine Täter gewesen. Die historische Forschung belegt jedoch, dass rund 250000 Deutsche direkt in den Massenmord involviert waren. Harald Welzer zeigt in seiner Studie „Opa war kein Nazi“, dass die Beschönigungen eher zu- als abnahmen.

Ein zweiter Aspekt: der Geschichtsrevisionismus, seit Einzug der AFD aggressiver betrieben, aber keine neue Entwicklung in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Am Volkstrauertag wird der „heldenhaft kämpfenden“ deutschen Soldaten zweier Weltkriege gedacht. Seit Fall der Mauer ist die Erzählung der „beiden deutschen Diktaturen“, die die Deutschen „überwunden“ haben, weit verbreitet. Die neue Rechte arbeitet an einer Umdeutung der Geschichte, versucht, die Deutschen als ethnisch homogenes Volk zu inszenieren. Auch der Antisemitismus lebt im Geschichtsrevisionismus weiter. Zwar wird das Gespenst der Islamisierung Deutschlands und Europas beschworen, hinter den Kulissen seien aber die Juden für den „Bevölkerungsaustausch“ verantwortlich. Dabei werden sie nicht benannt, Codes wie „Kosmopoliten“ oder „Finanzelite“ reichen aus. 

Die Herausforderung bestehe nicht nur in der Aufklärung über Geschichte und Richtigstellung der Fakten. Sie bestehe auch darin, herauszufinden, welche Bedeutung diese Welt- und Selbstsicht habe, gerade auch für Jugendliche, unterstrich Mendel. Es gelte, die Leerstellen unserer Erinnerungskultur zu analysieren. Die Geschichte werde aber nur dann relevant bleiben, wenn sie zu aktuellen Ereignissen ins Verhältnis gesetzt werde. Mit den anbrechenden 20er Jahren des 21. Jahrhunderts ergeben sich Fragen, wie ähnlich unsere Zeit der Zeit vor 100 Jahren ist. Auch heute prägen ein rapider Wertewandel, zunehmende populistische und ausgrenzende Tendenzen unsere modernen Gesellschaften. 1933 hielten es die meisten Bürger für völlig undenkbar, dass nur wenige Jahre später die Juden nicht nur ihrer Rechte beraubt, sondern zur industrialisierten Massentötung abtransportiert wurden. Mendel schloss seinen Vortrag mit einer Frage, die sichtlich viele im Saal bewegte: „Auch, wenn sich der Holocaust nicht wiederholt: Was kann, was wird noch passieren, was wir heute für undenkbar halten?“

Meron Mendel, links im Bild mit Direktorin Christiane Bongartz und Hauptabteilungsleiter Harald Hüller, sprach im Rahmen des Neujahrsempfangs der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen. (c) Thomas Hohenschue

Meron Mendel, links im Bild mit Direktorin Christiane Bongartz und Hauptabteilungsleiter Harald Hüller, sprach im Rahmen des Neujahrsempfangs der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen.