Entscheidungen über Rahmenbedingungen für unser Leben werden oft an übergeordneter Stelle getroffen: Impfstrategie, Klimaschutz, Umgehungsstraße, neues Einkaufszentrum, Kirchennutzung, Zukunft der Gemeinde. Auch wenn wir von unserem Wahlrecht Gebrauch gemacht und Abgeordnete, Stadt- und GdG-Räte mitbestimmt haben, bleibt doch oft das Gefühl „Mich fragt ja keiner“. Bürgerräte könnten das ändern.
Die Idee ist, dass es, um die großen Herausforderungen unserer Zeit wie begrenzte Ressourcen, wachsende Komplexität und Digitalisierung aller Lebensbereiche zu meistern, mehr braucht als nur Impulse vonseiten der Politik. Dazu braucht es auch den Rat der Bürgerinnen und Bürger. Jeder und jede von ihnen ist Teil unserer Demokratie und damit grundsätzlich fähig, an ihr mitzuwirken.
Per Losverfahren wird eine bestimmte Anzahl von Bürgerinnen und Bürgern (die als Gruppe in Alter, Geschlecht, Bildung usw. die Gesellschaft widerspiegeln) eingeladen, sich im Rahmen eines Bürgerrates mit gesellschaftlichen Themen und Fragestellungen zu beschäftigen und Handlungsempfehlungen dazu zu erarbeiten. Die wiederum nicht einfach in der Schublade verschwinden dürfen, sondern von den jeweiligen Entscheidungsträgern berücksichtigt werden müssen. Ablehnungen müssen begründet werden.
In anderen Ländern wie Dänemark, Irland oder Schottland hat man damit bereits auf nationaler wie lokaler Ebene gute Erfahrungen gemacht. In Deutschland hat im September 2019 ein bundesweiter Bürgerrat zum Thema „Zukunft der Demokratie“ getagt. Im vergangenen Jahr ist ein weiterer zu „Deutschlands Rolle in der Welt“ gestartet. Weitere Bürgerräte gibt es auf regionaler und lokaler Ebene.
Mit einer Gruppe Aachener, die wieder mehr miteinander über Themen, die ihnen und anderen auf den Nägeln brennen, reden und diskutieren wollte statt nur übereinander, sowie einem Blick über die Grenze. Im Herbst 2019 ging in der Pfarrei St. Donatus das Gesprächsformat „Brand spricht“ an den Start. Ein Thema, das die Initiatoren besonders ansprach, war der Bürgerdialog des Parlaments der Deutschsprachigen Gemeinschaft in Belgien. Im August vergangenen Jahres fand die Veranstaltung dazu statt, und ein Ergebnis war: Das wollen wir auch für Aachen. Einen Monat später gab es ein erstes Treffen auf dem Deck des Parkhauses Büchel. Die Initiative „Bürgerrat für Aachen“ gründete sich und erarbeitete ein Konzept und eine Vorlage für einen Aachener Bürgerdialog, den sie zum Jahresanfang bei Oberbürgermeisterin Sybille Keupen, die selbst bei den ersten Veranstaltungen dabei war, zur Abstimmung im Stadtrat einreichten.
Kern der Vorlage der Initiative ist, Aachener Bürgerinnen und Bürger selbst Lösungen für Probleme und Fragestellungen vor Ort entwickeln und ihr Lebensumfeld aktiv mitgestalten zu lassen. Bestehen soll der Bürgerdialog aus drei Gremien: Der Bürgerrat, der zu jedem Thema neu zusammengelost wird, besteht aus 99 Mitgliedern, die eine repräsentative Auswahl der Bürgerschaft darstellen: Zusammensetzung nach Geschlechtern, Altersgruppen, Stadtteilen, sozioökonomischer Durchmischung, Bildungsgrad, Menschen aus Einwandererfamilien, Menschen mit Behinderungen. Sie diskutieren über ausgewählte Themen und entwickeln dazu Lösungsvorschläge. Diese Empfehlungen werden als Bürgergutachten an den Stadtrat weitergegeben. Zweites Gremium ist der Bürgerausschuss, der sich aus Teilnehmern vergangener Bürgerräte zusammensetzt. Er legt die Themen für Bürgerräte sowie deren Ablauf fest und begleitet sie im Verlauf ihrer Beratungen sowie nach Abschluss die Umsetzung der Bürgergutachten. Unterstützt werden Bürgerrat und -ausschuss vom Bürgersekretariat, das sich um organisatorische und administrative Fragen kümmert.
Die Initiative will Menschen wieder mehr für Politik und Gesellschaft interessieren, ihnen die Chance geben, dabei mitreden zu können, wie wir in Zukunft leben wollen. „Gerade auch die, die nicht wählen waren, bekommen so einen Einblick in die Arbeit, die dahintersteckt. Meckern ist leicht, wenn man nicht in der Verantwortung ist“, sagt Gereon Hermens, gemeinsam mit Frank Sukkau (beide sind auch Mitinitiatoren von „Brand spricht“) Sprecher der Initiative. Sie wollten zeigen, was das mit Menschen machen kann, zu erleben, dass Demokratie mehr ist, als alle vier Jahre ein Kreuz zu machen. „Wer mitgestaltet, bekommt eine ganz andere Sicht auf die Dinge.“
Über den Antrag zur Einrichtung eines Bürgerrates über Aachen hinaus möchte die Initiative die Idee dahinter breiter streuen und in die Schulen gehen. Gemeinsam mit interessierten Lehrern soll überlegt werden, wie das aussehen kann. Auch mit anderen gesellschaftlichen Akteuren wie Hochschulen, Gewerkschaften, Städteregion und Kirche möchte sie in den Austausch kommen. Gerade mit den Kirchen dürfte es viele thematische Schnittmengen geben, zum Beispiel in Fragen sozialer Gerechtigkeit. Auch die Idee von Bürgerräten ließe sich auf kirchliche Bereiche übertragen, um so beispielsweise auf Pfarrei- oder GdG-Ebene auch die aktiv in Entscheidungen einzubinden, die in keinem Gremium sind. Warum nicht mal, statt nur mit den immer gleichen Gemeindemitgliedern zu diskutieren, per Los allen eine Stimme bieten?
Mehr zum Thema „Bürgerräte“ allgemein gibt es unter www.buergerrat.de und zur Aachener Initiative, die auch weiterhin Unterstützer und Multiplikatoren sucht, unter www.buergerrat-aachen.de.