„Unser Leben ist immer verbunden mit dem Leben der Anderen“

Bischof Dr. Helmut Dieser warnt in seiner Silvesterpredigt vor einem radikalen Individualismus und einem Rückzug in die Innerlichkeit

(c) Bistum Aachen / Andreas Steindl
Datum:
2. Jan. 2025
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 01/2025

Der Bischof von Aachen, Dr. Helmut Dieser, hat eindringlich vor einem radikalen Individualismus, der in der Arbeit am eigenen Selbst die Lösung für alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Probleme suche, gewarnt. 

„Ich sehe die hohen Austrittszahlen aus unserer Kirche auch in diesem Zusammenhang“, erklärte Dieser in der Jahresschlussandacht im Aachener Dom. „Denn die Frustrationen durch die Aufarbeitung der Verbrechen des sexuellen Missbrauchs in unserer Kirche und durch das Ringen um Reformen, alle Lagerbildungen und alle Ungeduld mit denen, die anderer Meinung sind, hängen auch damit zusammen, dass wir alle als Kinder unserer Zeit zuerst individualistisch denken und em-pfinden.“ Doch allein in sich selbst und nur im eigenen Innern seien keine Instrumente gegen all die Skandale und Verbrechen zu finden; sie überforderten darum jeden Einzelnen von uns. Darum lege sich als Lösung für viele der Austritt nahe.

Rückbezug auf die eigene Innerlichkeit

Dieser charakterisierte in seiner Silvesterpredigt die heutige Zeit so, dass nie zuvor in der Geschichte ein einzelner Mensch so unabhängig von allen anderen habe leben können wie heute. Der Mainstream lege uns nahe, dass man nur dann glücklich lebe, wenn man mehr und mehr seinen ganz persönlichen Stil, seine ureigenen Bedürfnisse und Erfahrungen entfalten könne. Unzählige Influencer in den Social Media verkauften ihre eigene Einmaligkeit als Vorbild. Wenn dann noch der Einfluss der Algorithmen dazu komme, dann würden die Nischen und Blasen, in denen viele Menschen sich heute bewegten, immer individueller und leider oft auch immer radikaler, mahnte der Bischof. „Im Bereich des religiösen und des geistlichen Lebens entspricht dem, dass viele Menschen sich heute mehr und mehr rückbe-ziehen vor allem auf die eigene Innerlichkeit“, stellte Dieser fest. 

Schutz des Lebens im gemeinsamen Haus dieser Erde

Noch schwerer wiegt diese Tendenz nach Ansicht des Bischofs allerdings im politischen Bereich: Die Enttäuschung an der Demokratie, die Tendenz, extremistische Parteien zu wählen, komme auch daher, dass die Probleme in der Welt nicht kleiner, sondern immer größer und bedrohlicher würden. Angesichts dessen stellten sich Fragen wie: Was verbindet uns alle? Was trägt dazu bei, dass es allen besser geht? Wie sorgen wir für den Erhalt der natürlichen Ressourcen dieser Erde für alle heute Lebenden und für die, die nach uns kommen? Wie schützen wir gemeinsam das menschliche Leben im gemeinsamen Haus dieser Erde? „Die Fragen und Infragestellungen werden immer größer, die Anstrengungen, zu gemeinsamen Lösungen zu kommen, aber immer erfolgloser“, kritisierte Dieser in der Jahresschlussandacht. „Individualismus auch hier: Meine Interessen müssen durchkommen, ich sorge zuerst für mich und die, die so denken wie ich.“

Dieser Haltung stellte Dieser eine fast vergessene Glaubenswahrheit entgegen, die uns seiner Meinung nach heute ganz entscheidend weiterhelfen kann. Im Großen Glaubensbekenntnis des Konzils von Nizäa, dessen 1700. Jubiläum im Jahr 2025 gefeiert wird, sei es so formuliert: „Er sitzt zur Rechten des Vaters und wird wiederkommen in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten; seiner Herrschaft wird kein Ende sein“. Jesus, der in Bethlehem von der Jungfrau Maria geboren und von Pilatus zum ehrlosen Verbrechertod verurteilt worden sei, sitze zur Rechten Gottes, das heiße: Das geschichtliche Faktum seines Lebens und Sterbens mache ihn ewig aus. Durch dieses irdische Geschehen des Lebens Jesu habe Gott die Welt und ihr ganzes Schicksal neu ausgerichtet. „Das Navi der Weltgeschichte, das Gott allein kennt, kann nicht mehr umprogrammiert werden“, hob der Bischof hervor. „Mit Jesu eigenen Worten aus dem Matthäusevangelium gesagt, läuft das Navi Gottes zu auf den Jüngsten Tag, an dem der Menschensohn ,mit seinen Engeln in der Herrlichkeit seines Vaters kommen wird‘ , und dann wird er jedem nach seinen Taten vergelten‘“. Jedes gelebte Leben, alle Pläne und Absichten, Taten und Untaten, Erfolge und Verrate, Gebete und Werke aller Menschen würden in einem letzten Gericht erkannt und beurteilt. „Der Jüngste Tag wird alle Zusammenhänge für alle sichtbar machen. Kein Mensch kann von sich und für sich allein leben. Unser Leben ist immer verbunden mit dem Leben der anderen.“

Das Menschsein voll und ganz gelebt und auch alles durchlitten

Des Weiteren erinnerte Dieser daran, dass der menschliche Leib sterblich sei und auch Jesus von Maria in einem menschlichen Leib geboren und in einem menschlichen Leib gestorben sei. „Kaufen oder zurückkaufen kann man nichts bei Jesus, die ganze Welt gewinnen aus eigenen Stücken zählt nichts vor Jesus“, gab der Bischof in seiner Predigt zu bedenken. „Nur das Hinter-ihm-Hergehen und Mitvollziehen, was er gelebt hat: aus Glauben! So wird Glauben zum Tun, und nach unseren Taten aus Glauben oder aus Nichtglauben werden wir gerichtet.“ Das Gericht am Jüngsten Tag werde nicht nach irgendwelchen Berechnungstabellen entscheiden, sondern nur danach, wie viel von Jesus im irdischen Leben eines Menschen sich finden werde.

Gnade, an Jesus als Erlöser und Richter zu glauben

Abschließend forderte Dieser deshalb, den Glaubensartikel vom Jüngsten Gericht wiederzuentdecken und ihn auf die Probleme von heute zu beziehen. „Daran glauben zu können, dass Jesus Christus der Erlöser ist und der kommende Richter, das ist gerade in einer solchen Zeit eine Gnade“, urteilte der Bischof.

„Wenn ich in meinem Inneren, christlich gesprochen: in meinem Herzen, Glaubenswahrheiten finde, die mich mit anderen verbinden und mir geschenkt werden, dann machen sie mir Mut, sie trösten mich, sie helfen mir, nicht bitter zu werden.“ 
Wer aus der Kirche austrete, werde dadurch nicht stärker, sondern über kurz oder lang geistlich nur auf sich selbst zurückgeworfen. Wer aber am Leben der Kirche teilnehme und den Glauben der Kirche in sein Innerstes hineinlasse, treffe auf mehr als Menschliches.