Undenkbares wurde wahr

Die gebürtige Ukrainerin Tetyana Lutsyk beschreibt, wie sie die vergangenen Wochen erlebt hat

Gebet für den Frieden: Jugendliche des Anne-Frank-Gymnasiums und der Heinrich-Heine-Gesamtschule mit Friedenskerzen. (c) Birgit Komanns
Gebet für den Frieden: Jugendliche des Anne-Frank-Gymnasiums und der Heinrich-Heine-Gesamtschule mit Friedenskerzen.
Datum:
15. Juni 2022
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 24/2022 | Andrea Thomas

Gute 16 Wochen ist es her, dass Russlands Machthaber Wladimir Putin die Ukraine angegriffen hat. Die Bilder und Meldungen von Zerstörung und menschlichem Leid bleiben weiter schwer zu begreifen. Tetyana Lutsyk ist gebürtige Ukrainerin, lebt seit vielen Jahren in Deutschland und arbeitet als Pastoralreferentin im Bistum Aachen. 

Der Krieg in der Ukraine berührt Tetyana  Lutsyk auf ganz unterschiedlichen Ebenen. (c) privat
Der Krieg in der Ukraine berührt Tetyana Lutsyk auf ganz unterschiedlichen Ebenen.

Angefangen hat dieser 24. Februar auch für sie wie ein ganz normaler Donnerstag. Naja, fast normal, denn es ist Weiberkarneval. „Ich habe morgens meine Kinder für den Kindergarten fertig gemacht und ihnen die Gesichter für den Karneval angemalt“, erzählt Tetyana Lutsyk. Als sie nach Hause kommt, hat sie die ersten Fotos aus der alten Heimat auf dem Handy. Sie und ihr Mann sind fassungslos. Beide haben Familie in der Ukraine. „Ich habe den Gedanken an Krieg ferngehalten. Am Tag vorher habe ich noch mit einer Freundin gemailt, und wir waren überzeugt: Das wird nicht eintreten.“

Nun ist doch Krieg und sie erlebt in der eigenen Familie, wie unterschiedlich Menschen in der Ukraine damit umgehen. Ihre Eltern leben im Gebiet Lemberg im Westen der Ukraine, wo sie einen kleinen Selbstversorgerhof haben. Als sie ihre Mutter anruft, ist die gefasst. Sie erklärt ihr, sie habe die Betten bezogen und alles hergerichtet. Die Flüchtlinge könnten kommen. „Das war für sie gar keine Frage. Menschen würden vor den Kämpfen fliehen und sie würden irgendwo unterkommen müssen“, berichtet Tetyana Lutsyk. „Ich habe größten Respekt vor ihr. Die Welt bricht zusammen, aber sie bleibt ganz klar und sucht sich eine Aufgabe.“ Ihr Vater dagegen sei emotional und seelisch von der Situation überfordert und überwältigt gewesen. Zu ihrer Tochter und deren Familie nach Aachen zu flüchten, kommt für ihre Eltern nicht in Frage. Beide seien über 70 Jahre und hätten eine tiefe Bindung an ihren Hof, die Tiere, den Ort, an dem sie mehr als ihr halbes Leben verbracht haben, für den sie verantwortlich sind. Tetyana Lutsyk kann das verstehen. „Sie spüren, was ihnen verloren gehen könnte.“ Viele dächten so, gerade auch Ältere, weil ungewiss ist, in was für ein Land sie zurückkehren – wenn sie denn zurückkehren.

Für andere gilt: Hauptsache weg, egal wohin. Einige entschieden unterwegs oft erst sehr spontan, in welchen Zug oder Bus sie einstiegen und mit welchem Ziel. Auch diesen Fluchtinstinkt hält die zweifache Mutter für nachvollziehbar. „In den ersten zwei, drei Wochen haben viele auch gedacht, das dauert ja nicht lange. Ihnen wird jetzt klar: Es gibt nichts, wohin sie zurück könnten.“ Beeindruckt hat sie die Hilfsbereitschaft der Menschen in den ukrainischen Nachbarländern. „Toll, wie schnell Menschen in Polen ein Netzwerk aufgestellt haben, wo Wohnungen für Geflüchtete frei sind. In Moldawien haben junge Leute einen Chat eingerichtet, wie man mit Geflüchteten umgeht. Es gibt so viel Menschlichkeit, die wir dem Tyrannen entgegensetzen können.“

Ab Anfang März kommen die ersten Menschen aus der Ukraine in Aachen an und Tetyana Lutsyk gehört von Anfang an zu denen, die sich kümmern. Mit Geflüchteten-Seelsorger Andreas Funke überlegen sie, wie eine Vernetzung zwischen Bistum, Pfarreien und Kommunen möglich ist. Etliche der ankommenden Familien können sie so in pfarrlichen Räumen unterbringen. Die Erstversorgung der Menschen, die nur mit dem Notwendigsten gekommen sind, klappt gut: „Großartig, dass es gelungen ist, in so kurzer Zeit all die Menschen zu versorgen.“

Inzwischen laufe vieles in festen Bahnen. Da habe sich viel getan in städtischen Einrichtungen und Ämtern, zum Beispiel getrennte Schlangen, um schneller und zielgerichteter Hilfe bieten zu können. Denn langfristig brauche es Strukturen, und die Menschen bräuchten Klarheit über ihre Zukunft hier in Deutschland. „Zwei Drittel der Frauen haben einen akademischen Abschluss, sind zum Beispiel Ingenieurinnen, Medizinerinnen oder Lehrerinnen. Für sie ist es ein merkwürdiges Gefühl, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein. Sie sind kribbelig, wollen arbeiten“, schildert sie ihre Erfahrungen. Diese Frauen hätten nicht unbedingt Nachweise über ihre Ausbildung dabei, aber viel Erfahrung und Kompetenzen. Doch es ist schwierig. Sprachkurse gibt es viel zu wenig, weil es an Lehrenden fehlt. Wo es sie gibt, fehlt oft die Möglichkeit der Kinderbetreuung. Das alles sorgt für Unsicherheit. Zumal ja auch noch niemand sagen kann, wie lange dieser Krieg und seine Folgen dauern werden.

 

>> Wenn abends die Tür zugeht, fange ich an zu heulen. <<

Geflüchtete Ukrainerin

 

Neben der praktischen Hilfe und Unterstützung, ist Tetyana Lutsyk immer wieder auch als Seelsorgerin gefragt. Sie arbeitet als Pastoralreferentin in der GdG „grenzenlos“ in Aachens Nordwesten und ist seit Anfang Juni mit einer halben Stelle Seelsorgerin für Geflüchtete aus der Ukraine in Aachen-Stadt und Aachen-Land. Sie bekommt dieser Tage viele Geschichten zu hören, die sie persönlich berühren. Sei es von der verzweifelten Flucht vor russischen Angriffen ins Ungewisse, vom Ausharren in Schutzräumen oder U-Bahn-Stationen, in denen es bitterkalt war und oft noch ist, von der Sorge um Ehemänner, Väter, Brüder und Söhne, von Schuldgefühlen gegenüber den Zurückgebliebenen, aber auch von großer Stärke und Durchhaltewillen. „Das sind so starke und mutige Frauen. Da können wir uns ein Stück von abschneiden“, sagt sie. Die dennoch Raum zum Reden brauchten. „Wenn abends die Tür zugeht, fange ich an zu heulen.“, zitiert sie eine der Frauen. Vorher muss sie stark bleiben. Die Menschen dabei zu begleiten und auch für Frieden und Ausgleich zwischen den Geflüchteten zu sorgen, die aus unterschiedlichen Regionen der Ukraine kommen, was nicht immer konfliktfrei ist, darin sieht Lutsyk auch eine Aufgabe von Kirche. Für die Ukrainer bedeutet dieser Krieg auch eine Auseinandersetzung mit ihrer Geschichte, nach welchen Werten sie sich orientieren wollen, wie eine Zukunft nach all dem jetzt aussehen kann. „Friedens- und Versöhnungsarbeit zwischen den ukrainischstämmigen und russlandstämmigen Menschen wird die Aufgabe der nächsten Jahre – ja sogar Jahrzehnte sein, denn dieser Krieg hat einen tiefen, schwer überwindbaren Graben zwischen diesen beiden Nationen geschaffen.“

Frieden, das ist derzeit auch einer der größten Wünsche von Tetyana Lutsyk. Mit Friedensgebeten, wie sie seit Beginn des Krieges vielerorts stattfinden, hat sie sich dennoch schwergetan. „Man kann nichts tun, außer vielleicht aushalten. Mich machte die Situation ‚friedlos‘“, erzählt sie. Doch dann lädt ihre ehemalige Pfarrei St. Willibrord in Merkstein zum Friedensgottesdienst ein und sie spürt, dass das den Menschen etwas gibt. Als die Heinrich-Heine-Gesamtschule und das Anne-Frank-Gymnasium sie um Mitwirkung bei einem interreligiösen Friedensgottesdienst bitten, verändert das ihren Blick endgültig. 150 Jugendliche nehmen daran teil, alle drei großen Weltreligionen sind über Beiträge eingebunden, für alle gibt es weiße Friedensbändchen und Kerzen. „Es war großartig. Man merkte, wie andächtig und ergriffen sie waren und wie wichtig ihnen das Thema ist. Ich habe verstanden, was Friede ist und dass es an uns liegt, diesen Frieden in die Welt zu tragen“, sagt Tetyana Lutsyk.