Umkehr, Besinnung und die Rückkehr an die Quelle

Seit einem Jahr befinden sich die Menschen praktisch in einer „Fastenzeit“. Dennoch haben die 40 Tage vor Ostern für Christen noch eine tiefere Bedeutung in der Ausrichtung auf Gott

Brot und Wasser stehen stellvertretend für das klassische Fasten. (c) www.pixabay.com
Brot und Wasser stehen stellvertretend für das klassische Fasten.
Datum:
18. Feb. 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 07/2021

Im Verzicht verzichten? Was Menschen in den Regionen Kempen-Viersen und Krefeld über diese besondere Vorbereitungszeit zum Hochfest der Christen denken und wie sie sie begehen, brachte Dorothée Schenk in Erfahrung. 

Jan Nienkerke, Leiter der Pfarrei St. Cornelius und Peter Dülken

Pfarrer Jan Nienkerke (c) Dorothée Schenk
Pfarrer Jan Nienkerke

In diesen Tagen wird uns deutlich vor Augen geführt, wie notwendig beides ist: Es braucht das Karnevalsbrauchtum mit seinen großen Traditionen – nicht nur als Ventil, um mal „Dampf abzulassen“, sondern tatsächlich als Kulturgut, das mit seinen zum Teil jahrhundertelang gewachsenen Traditionen vielen Menschen Freude bereitet.

Genauso braucht es nach dem ausgelassenen Feiern auch wieder eine Zeit, in der wir uns bewusst wieder darauf besinnen, was in unserem Leben wirklich wichtig ist, und dann aus freier Entscheidung versuchen, uns wieder neu daran auszurichten – darin sehe ich den eigentlichen Sinn der Vorbereitungszeit auf Ostern.

Ich versuche, die Zeit auf Ostern hin für mich als geistlichen Weg zu begreifen, auf dem ich eingeladen werde, mein Leben in den Blick zu nehmen und manche „eingeschliffenen“ Gewohnheiten auf den Prüfstand zu stellen und kritisch zu hinterfragen. Die Botschaften der Evangelien der einzelnen Fastensonntage dienen mir dabei als „Leitplanken“. Da, wo ich dann erkenne, dass ich mich „verrannt“ habe und in der Konsequenz umkehren muss, kann das durchaus anstrengend und herausfordernd werden.

Michelle Engel , Gemeindereferentin der Pfarrei Papst Johannes XXIII.

(c) Archiv PuKBSuS

Die Situation, in der wir ja schon länger leben, braucht Struktur und Tradition. Ich glaube, dass sich viele darum bewusst für ein Miterleben der Fastenzeit entscheiden. Ich verbinde die Fastenzeit mit dem englischen „to fasten“: Sich an etwas binden und auch Neuorientierung finden. Verzichten hat daran nur einen geringen Anteil. Beziehungsqualitäten zu stärken ist ein Beispiel: die Beziehung zu meinem Partner, meinen Kindern, zu Gott. Da steht nicht der Verzicht im Vordergrund, sondern die Optimierung. Zu überlegen, was Corona nicht nur an Einschränkungen, sondern auch an Positivem bringt. Die Frage zu stellen: Was beeinträchtigt die Lebensqualität? Alkohol, Zigaretten, Essen, Medienkonsum – was hindert mich daran, dass mein Leben für mich bereichernd ist? Noch eine Herausforderung: Sich selbst zu motivieren, etwa durch den Stadtwald zu gehen, weil man weiß, dass man es für sich tut und man sich danach besser fühlt. Das kreative Umgehen mit der Situation kann in diesem Jahr ein Aspekt der Fastenzeit sein.

Norbert Viertel , Leiter der Pfarrei Hildegundis von Meer

(c) Archiv PuKBSuS

Aus meiner Sicht ist die Fastenzeit nicht in erster Linie eine Zeit des Verzichts, sondern der Neuorientierung. Dieser Weg steht uns offen durch Jesus Christus. Jenem Menschen, der als erster seiner Freiheit und seiner Verantwortung voll und ganz gerecht wurde. Er konnte allen Versuchungen des Bösen widerstehen und bewahrte damit die Freiheit für uns.
In diesem Jahr wird es keinen ausgelassenen Karneval geben. Aber auch in dieser Zeit steckt die Botschaft, dass das Leben schön und ein Geschenk ist, in dem wir Gott entdecken können. Die sich anschließende vierzigtägige österliche Bußzeit ist ein Zeitraum, der auf Zukunft und Hoffnung hin ausgerichtet ist. Die Fastenzeit vollzieht den Weg aus selbstgewählter Abhängigkeit durch eine Phase des Verzichts und der Sehnsucht hin zu dem großen Aufatmen in der erlösenden Freude des Ostermorgens.

Weil Jesus Christus seine Freiheit nicht missbrauchte, hat Gott in ihm alle Menschen als Töchter und Söhne angenommen. Die Abkehr des Menschen von Gott, die zum Sündenfall und zur Vertreibung aus dem Paradies führte, wird zum Guten gewandelt. Wenn wir in der Heiligen Schrift auf die sich immer mehr ausweitende Verstrickung der Menschheit in Abhängigkeit und Schuld schauen, die sich bis in unsere Gegenwart fortsetzt, scheint es zugleich so, als wollte Gott uns erst recht seine Sympathie, sein Mitleiden schenken.
In diesem Jahr wird uns vielleicht deutlicher als je zuvor die soziale Dimension der Fastenzeit bewusst. Ziel einer Neuausrichtung des Lebens kann nicht nur die Suche nach dem privaten Glück sein.

Es wird daher wichtig sein, bei möglicherweise weiterhin geltenden Einschränkungen in der Corona-Krise gemeinsam ein neues Miteinander aus dem Glauben heraus zu entwickeln. Auch an dieser Stelle wird deutlich, dass viele überholte kirchliche Plausibilitäten nicht mehr tragfähig sind. Die Kirche braucht eine Neuausrichtung. Es gilt weniger, anderen Menschen in der Fastenzeit den Verzicht zu predigen, als vielmehr die Notwendigkeit, Kirche von innen, oben und unten zu erneuern.

Anja Künzel, Pastoral Mit-Menschen mit Behinderung in den Regionen Kempen/Viersen und Krefeld

(c) privat

Corona ist eine verlängerte Fastenzeit, und zwar schon seit dem 16.3.2020, die auch auf die Frage hinweisen könnte: Was ist der Ausnahmezustand und was ist der Regelfall? Unser Leben in dieser sehr gutbürgerlichen, reichen Gesellschaft gleicht einem Dauerkarneval, für den es dringend eine Fastenzeit bräuchte. Die Fastenzeit ist in der Kirche dazu da, dass im Jahreskreis die Basis wieder deutlicher, klarer, bewusster wird. Dazu dient auch eine gute Regel. Sie ist Leitplanke für ein glückliches, gelungenes, gutes Leben. Das ist eine bewusste Entscheidung. So frage auch ich mich manchmal täglich: Für welche Sichtweise entscheide ich mich jetzt? Will ich das Unangenehme möglichst bald loswerden oder sage ich Ja zu dem Lernprozess, um diese vertauschten Parameter – Ausnahme und Regel – vielleicht wieder ins Lot zu bringen? Die Fastenzeit ist für mich nicht viel anders als der Rest des Jahres – nur intensiver. Für mich ist Meditation und Gebet im Leben sehr wichtig, die große Suche nach der tiefen Freude des Lebens und Lachens. Vielleicht ist es sogar mehr „Fasten“, auf die trübe Miene zu verzichten und sich zu entscheiden, Gott für jeden Tag zu loben? Das ist nicht immer leicht. Danach fühle ich mich im Moment nicht. Aber ich entscheide mich jeden Tag neu dafür.

Georg Nuño Mayer, Referent im Büro der Regionen Krefeld / Kempen-Viersen

21_Feb.KV _14-15_tee_b4 (c) Dorothée Schenk
21_Feb.KV _14-15_tee_b4

Die Frage nach der Fastenzeit in diesem Jahr ist die Frage, wie ich mich auf die Liebe (besonders in der Stunde des Leidens) und auf die Hoffnung vorbereite. Doch mit Corona verzichten wir schon seit einem Jahr auf so viel! Sehr viele Menschen sind gestorben in unserer Umgebung und weltweit; sehr viele Menschen haben ihre Existenzgrundlage verloren; wir alle, angefangen bei Kindern und älteren Menschen, haben auf die lebensnotwendigen Begegnungen verzichten müssen. Nein, ich denke, mehr Verzicht wäre in diesen Zeiten bei vielen eine „Unterernährung“ der Seele.

Doch wie kann ich meine Sinne und Wahrnehmung auf das Osterfest vorbereiten? Statt Verzicht will ich diese Fastenzeit mit den Erfahrungen von Geschwisterlichkeit, Dank und Hoffnung füllen. Jeden Tag will ich einige Minuten in mich gehen und mich fragen. Denn „Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder – die Freude“ (Evangelii Gaudium 1).

Andreas Bodenbenner, Gemeindereferent der GdG Kempen-Tönisvorst

(c) privat

Die Pandemie zwingt uns unfreiwillig, aber notwendigerweise zum Verzicht, aber auch die Klimakatastrophe müsste Menschen zum Verzicht bringen. Nico Paech, ein Ökonomieprofessor, schreibt in seinem Buch „All you need is less“: „Wie können wir es Verzicht nennen, wenn wir aufhören würden, die Lebensgrundlagen unserer Kinder zu rauben?“ In Analogie zu diesem Gedanken ist der Verzicht zum Beispiel auf Nähe, Berührung, Begegnung, freie Bewegungsmöglichkeiten aufgrund der Pandemie ein gebotenes Aussetzen von Ansprüchen usw. zum Wohle meiner Mitmenschen.

Verzicht hat für mich in einem höheren Maße damit zu tun, dass ich etwas reduziere (muss) aufgrund eines eher von außen an mich herangetragenen Wunsches, Anspruches oder Rechtes. Fasten beziehe ich hingegen stärker auf meine eigene Willensentscheidung, die mich dazu bringt, bewusst auf etwas zu verzichten. Ich nehme in diesem Jahr an einem Kurs „Exerzitien im Alltag“ teil.

Dadurch erhalte ich eine Struktur und Inhalte und kann jeden Tag an einem vorgegebenen Gedanken/Text weiterdenken, mich und mein Leben überprüfen und an einzelnen Tagen in einen Austausch mit anderen treten.