Tief erschüttert

Was es bedeutet, wenn ein verehrter Pfarrer als Täter beschuldigt wird

Wo früher der Name des Pfarrers stand, hängt nun eine Fahne mit einem Segensspruch. (c) Garnet Manecke
Wo früher der Name des Pfarrers stand, hängt nun eine Fahne mit einem Segensspruch.
Datum:
25. Okt. 2023
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 43/2023 | Garnet Manecke

Jahrzehntelang war der Priester in der Gemeinde tätig. Er wurde verehrt, war beliebt. Nach seinem Tod trug ein Gebäude seinen Namen. Und dann kommt raus, dass er Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht haben soll. Immer mehr seiner Opfer melden sich, das Bild des Priesters bekommt starke Risse.
Pfarrer Johannes Gießen ist einer der mutmaßlichen Täter, deren Namen das Bistum Aachen veröffentlicht hat. Wie geht eine Gemeinde damit um?   

Über 700 Jahre ist die Winterlinde an der Seite der Kirche St. Laurentius alt. Ein Eissturm riss den morschen Stamm auf. Nun ist sein Inneres nach außen gekehrt. Die Winterlinde aber lebt weiter. (c) Garnet Manecke
Über 700 Jahre ist die Winterlinde an der Seite der Kirche St. Laurentius alt. Ein Eissturm riss den morschen Stamm auf. Nun ist sein Inneres nach außen gekehrt. Die Winterlinde aber lebt weiter.

Die 700 Jahre alte Winterlinde neben der Kirche St. Laurentius Odenkirchen trotzt den Umständen. Ihr Stamm ist gespalten, ihr Inneres hat ein Eissturm 2018 nach außen gekehrt. Obwohl der Stamm nur noch aus Fragmenten besteht und sie mit Stahlseilen gehalten wird, lebt sie. Jahr um Jahr ergrünt ihre Krone neu.

Nun ist sie ein Symbol für die Situation der Gemeinde, die vor der Frage steht: Wie soll es nun weitergehen? St. Laurentius ist eine Gemeinschaft der Gemeinden wie viele im Bistum  Aachen.
Es gibt Kinder- und Jugendgruppen, eine vielseitige Kirchenmusik, Frauentreff, Schützenbruderschaft und Angebote für Senioren. Geleitet wird die GdG von einem Team, in dem vor allem engagierte Laien tätig sind, das K-Team.

Früher stand ein Priester an der Spitze der Gemeinde. Besonders der in den Jahren 1965 bis 1985 war beliebt. Das Pfarrzentrum trug seinen Namen. Anfang des Jahres wurden Vorwürfe laut, dass der 2003 verstorbene Pfarrer Kinder missbraucht haben soll.
Ein Informationsabend zeigte, wie vielschichtig die Gefühlslage ist und wie groß die Unsicherheit. 

Aufklärung. Das K-Team, das die GdG leitet, hat sich entschlossen, mit den Vorwürfen offen umzugehen, und aktiv das Gespräch mit der Gemeinde gesucht. Der Namensschriftzug am Pfarrzentrum sei entfernt worden, sagt Wolfgang Habrich vom K-Team.
Statt des Namens hängt nun eine Fahne mit einem Segensspruch an der Fassade. Auch ein Bild, das den Pfarrer zeigt, sei in der Osternacht verschwunden. Wer es abgehängt habe und wo es geblieben sei, wisse man nicht.

Für den Informationsabend hat das Leitungsteam einen Ort in der Gemeinde gewählt, an dem der beschuldigte Priester nicht aktiv war. Mechthild Bölting, Präventionsbeauftragte des Bistums Aachen, und Christoph Urban, Leiter der Stabsabteilung PIA (Prävention, Intervention, Ansprechperson), sind gekommen, um Fragen zu beantworten. 

Zweifel. Ein älteres Ehepaar versteht die Welt nicht mehr. „Der Name ist weg, das Bild ist weg und das Fenster in der Sakristei ist auch schon weg“, sagt die Frau. „Es ist so viel gemacht worden, und wir wissen gar nicht, was überhaupt vorgefallen ist.“
Ihr Mann berichtet, dass er 20 Jahre Lektor in der Gemeinde gewesen sei, davon 13 Jahre in der Amtszeit des beschuldigten Pfarrers. „Er war ein väterlicher Freund der Messdiener“, sagt er. „Umso mehr war ich verwundert über die Nachricht, dass da etwas vorgefallen sein soll.“
Das Paar war dem Priester freundschaftlich verbunden. Nun offenbart sich eine Seite des Mannes, die sie mit dem, wie sie ihn erlebt haben, nicht zusammenbringen können. „Warum haben sich  die Opfer denn nicht viel früher gemeldet?“, fragt die Frau und erntet Entrüstung. 

Schmerz. Der Schmerz sitzt tief. „Es ist normal, nichts zu erzählen“, sagt Bölting. „Viele erzählen erst davon, wenn die eigenen Enkelkinder in dem Alter sind, in dem die Missbrauchsopfer bei der Tat waren.“
Neben dem Schmerz ist es auch die Angst, dass ihnen nicht geglaubt wird, die die Opfer schweigen lässt. „Wer hätte denn damals einem 13-Jährigen geglaubt, wenn der den Pfarrer beschuldigt hätte?“, fragt ein Mann. „Damals standen die Priester auf einem hohen Podest“, sagt eine Frau.
„Wenn jemand etwas gesagt hätte, hätte es vielleicht links und rechts eine gegeben. Mehr wäre nicht passiert.“  Täter haben ein zweites Gesicht, sie halten die Fassade des freundlichen Menschen aufrecht, damit den Opfern nicht geglaubt wird, sagt Bölting.
Das isoliert die Opfer. Ein Mann offenbart, dass er von einem Pfarrer der Gemeinde sexuell belästigt wurde. „Ich habe mit niemandem darüber gesprochen und habe es in mir vergraben“, sagt er.
40 Jahre sollte es dauern, bis er darüber sprach. Auslöser seien Anfragen von Müttern ehemaliger Messdienerkollegen im Pfarrbüro gewesen. Unter Tränen sagt eine Frau: „Es ist mutig, dass Sie sich gemeldet haben. Sie haben unseren Respekt und unsere Unterstützung verdient.“  

Scham. „Mich hat heute das schlechte Gewissen hierhin getrieben“, sagt ein Mann. „Ich war damals in der Pfarre aktiv, und ich frage mich: Was habe ich gemacht? Warum habe ich es nicht gemerkt? Habe ich nicht zugehört und eine Tür zugemacht?“
Auch die Frage, ob er vielleicht den Missbrauch durch sein Verhalten unwissentlich erst möglich oder gar befördert habe, beschäftige ihn. „Täter und Täterinnen sind Meister der Vernebelung. Es kann sein, dass Sie nichts gemerkt haben“, sagt Bölting.
Was hilft nun in der Zukunft, um Kinder zu schützen? Hinschauen und Zweifel ernst nehmen.

Zukunft. Was kann getan werden, um in Zukunft die Taten zu verhindern?
„Die beste Prävention ist es, Dinge wahrzunehmen und zu benennen“, sagt Bölting. Mit den Kindern und Jugendlichen zu sprechen und sie ernst zu nehmen.