Streitet euch – aber mit Respekt!

Burak Yilmaz, Autor des Buchs „Ehrensache – Kämpfen gegen Judenhass“, im Interview

Burak Yilmaz wuchs in Duisburg-Marxloh auf und besuchte ein katholisches Gymnasium, ebenso wie die Koranschule. „Wir werden nicht als Antisemiten geboren, sondern dazu erzogen“, sagt der Autor. (c) Pascal Bruns
Burak Yilmaz wuchs in Duisburg-Marxloh auf und besuchte ein katholisches Gymnasium, ebenso wie die Koranschule. „Wir werden nicht als Antisemiten geboren, sondern dazu erzogen“, sagt der Autor.
Datum:
10. Apr. 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 15/2024 | Stephan Johnen

„Wir haben selbst einen Mythos geschaffen, sind Erinnerungsweltmeister. Wer an dieses Selbstbildnis glaubt, nimmt Antisemitismus und Rassismus gar nicht wahr – und wenn, dann als Einzelfall“, attestiert Burak Yilmaz der deutschen Mehrheitsgesellschaft, zu lange dem Irrglauben aufgesessen zu sein, dass es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland keinen Antisemitismus mehr geben könne. 

Und wenn doch, dann sozusagen als unerwünschte Nebenerscheinung von Migration. „Wir haben ein gewaltiges strukturelles Problem“, möchte der Autor des Buches „Ehrensache – Kämpfen gegen Judenhass“ alle wachrütteln, sich der Realität zu stellen, bevor es zu spät ist.
 
Herr Yilmaz, seit 15 Jahren engagieren sie sich im Kampf gegen Antisemitismus bei Jugendlichen. Welche Frage von Journalisten können Sie nicht mehr hören?

 „Was ist schlimmer: der deutsche oder muslimische Antisemitismus?“ Diese Frage ist nicht nur gefährlich, aus ihr spricht auch eine Doppelmoral, die längst salonfähig ist. Antisemitismus ist nicht deutsche Vergangenheit – er gehört leider zur deutschen Gegenwart. Wir haben selbst einen Mythos geschaffen, sind Erinnerungsweltmeister. Wer an dieses Selbstbildnis glaubt, nimmt Antisemitismus und Rassismus gar nicht wahr – und wenn, dann als Einzelfall, der aber von Muslimen ausgeht, sozusagen den neuen Antisemiten. Ich arbeite seit 15 Jahren auf diesem Feld, aber seit dem 7. Oktober 2023, seit dem Überfall der Hamas auf Israel, werde ich ganz oft bei Diskussionen oder Veranstaltungen gefragt, wie ich zur Hamas stehe. Neben mir sitzen meist viele Menschen mit Doktor- und Professorentitel. Als einzig migrantische Person stellt man mir die Frage nach dem Existenzrecht Israels.

 

Empfinden Sie das als Geringschätzung Ihrer Arbeit?

Es geht nicht nur mir so, ich stehe in Kontakt zu vielen muslimischen Kollegen, die sich alle gegen Rassismus und Antisemitismus stark machen. Und wir müssen uns plötzlich rechtfertigen, stehen offenbar unter Generalverdacht. Manchmal denke ich mir, ich sollte die Veranstaltung einfach sprengen und die Vertreter der Mehrheitsgesellschaft mal fragen, wie sie zu den Reichsbürgern stehen. Oder zu Herrn Aiwanger. Oder dazu, was die Großeltern so während der NS-Zeit getan oder eben nicht getan haben. Ich empfinde eine große Schieflage, wenn es um das Thema Antisemitismus geht. 

 

Wie definieren Sie Antisemitismus?

Es handelt sich um ein Weltbild, bei dem man es sich sehr einfach macht: Die Juden sind an allem Schuld. Dieses Grundmuster lädt zu weiteren Erzählungen ein. Für meine Arbeit ist die Sozialisation der Jugendlichen sehr spannend. Kommen Sie aus einem Haushalt, in dem Antisemitismus direkt vermittelt wird (wie in meiner Community), oder eher indirekt, durch Schweigen – wie ich das oft bei deutschen Familien wahrgenommen habe. Wenn mir jemand sagt „Natürlich habe ich etwas gegen die Juden, na und?“, dann kann ich damit als Pädagoge und Mensch anders arbeiten. Die meisten Menschen haben gar keine realen Erfahrungen, Antisemitismus funktioniert über Gerüchte, die gewisse Bilder und Fantasien in unseren Köpfen auslösen. Es geht nicht nur um die Mechanismen von Auf- und Abwertung, sondern auch um eine Art von Omnipräsenz: „Die Juden sind einfach überall!“ So krass auf den Punkt gebracht hat es einmal ein JVA-Insasse, den ich betreut habe. Beim Antisemitismus trete ich nicht nur nach unten, ich unterstelle damit auch eine Art von Widerstand, da wir sonst nur Marionetten sind, die kontrolliert werden. Der Antisemitismus kann sogar verfeindete Lager vereinen. Das ist sehr wichtig in Bezug auf die aktuellen Auseinandersetzungen.

 

 

(c) KiZ

Wie kann man Menschen mit solchen Einstellungen rational packen?

Gar nicht. Ich versuche es erst gar nicht, sondern gehe das Thema ebenfalls emotional an, indem ich die Widersprüche aufzeige und versuche, sie aufzubrechen. Muslimische Jugendliche können diese Diskriminierungen oft sehr schnell auf eigene Diskriminierungserfahrungen übertragen. 

 

Was hat sich seit dem 7. Oktober verändert?

Die Stimmung ist extrem aufgeladen, es gibt sehr viel Hass, es findet ein großes Maß antisemitischer Gewalt statt. Die Gesellschaft spaltet sich, gewisse Zugehörigkeitsdebatten werden plötzlich sehr radikal geführt. Du bist nur Moslem, wenn du hinter Palästina stehst – oder nur Deutscher, wenn du bedingunglos Israel unterstützt. Dieses maßlos übertriebene Lagerdenken führt zu sozialer Ächtung, es wird Druck ausgeübt. Gleichzeitig merke ich, dass Antisemitismus auch in intellektuellen Kreisen eine große Rolle spielt.

Haben Sie ein Beispiel?

Ich arbeite aktuell lieber in der Schule als in einem Theater oder Literaturhaus mit vermeintlichen Bildungsbürgern, die die gleichen ungefilterten und pauschalisierenden Aussagen tätigen wie Achtklässler. Die Politik scheint hingegen in eine absolute Verweigerungshaltung gefallen zu sein. Sie begreift nicht, dass man jüdische Gemeinden sowie Jüdinnen und Juden schützen muss. Im Kampf gegen Antisemitismus wird seit Jahren nichts umgesetzt, das Ganze wird sehr eindimensional gedacht. Dabei haben wir eine vielfältige Gesellschaft mit vielfältigen Formen von Antisemitismus. Offenbar ist die Politik schockiert, dass es Antisemitismus gibt, und in eine Form von Ohnmacht verfallen. 

 

Was muss sich ändern?

Wir haben gesamtgesellschaftlich offenbar noch nicht begriffen, wie viel dieser Konflikt mit Deutschland und den Minderheiten zu tun hat. In der deutschen Mehrheitsgesellschaft ist es ein strukturelles Problem, weil es bei der Aufarbeitung nie ans Eingemachte ging: Wie war meine Familie in den Nationalsozialismus verstrickt, welche Rolle hat das Schweigen oder Reden gespielt? Stattdessen hat man sich lange selbst angelogen und mit den Fingern auf Muslime gezeigt, die eine Projektionsfläche für die eigene Verdrängung sind. Ich erlebe Debatten daher sehr polarisiert, gewisse Begegnungen finden gar nicht mehr statt. Das muslimisch-jüdische Verhältnis steht vor einem Scherbenhaufen. Es ist wichtig, dass Leute gegen die AfD auf die Straße gehen. Das ist sehr wichtig, das ist gut. Gleichzeitig bedarf es aber auch einer strukturellen gesellschaftlichen Veränderung. Wir brauchen wieder eine Streitkultur, anstatt sich in die eigene Bubble zurückzuziehen, um nicht mit Menschen in Kontakt zu kommen, die eine andere Perspektive aufs Leben haben. Genau jetzt müsste das absolute Gegenteil passieren! Wir müssen in ganz viele unangenehme Themen reingehen, die weh tun. Streit ist immer sehr negativ konnotiert. Aber man muss über Themen und Positionen streiten und den gegenseitigen Respekt bewahren können.

 

Was erschwert Ihre Arbeit seit dem 7. Oktober?

Es gibt in der muslimischen Community eine Logik, die wir aufbrechen müssen. Wer gegen Antisemitismus ist, gilt oft automatisch als pro-israelitisch und anti-palästinensisch. Diese Debatten sind anstrengend, es gibt sozialen Druck innerhalb der Community, gleichzeitig kämpfen wir gegen den Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft. 

 

Was muss die Politik tun?

Die Organisationen, die schon da sind, und die sich gegen Rassismus und Antisemitismus einsetzen, brauchen mehr Unterstützung. Wir benötigen ein Sondervermögen für Bildung. Schulen müssen massiv unterstützt werden. Ich habe tiefe Angst davor, dass auch der 7. Oktober die deutsche Politik nicht aus ihrer Bequemlichkeit herausgelockt hat. 

 

Wie meinen Sie das?

Es fehlt nach wie vor eine Vision, wie wir mit der rechtsextremen Szene umgehen, gleichzeitig erlebt die islamistische Szene eine Blütezeit. Der Islamismus greift die Rassismus-Erfahrung vieler Jugendlichen auf und investiert in Beziehungsarbeit. Es geht erst einmal nicht um Ideologie, sondern um Unsicherheit und Zweifel. Die Radikalisierung setzt erst ein, wenn es eine tiefe Beziehung zu den Menschen gibt. Warum vermögen die demokratischen Parteien nicht, auf die Menschen zuzugehen? Wie lange soll dieses Wegschauen und Nichthandeln noch gut gehen? Obwohl genau jetzt alles getan werden müsste, um Rechtsextremismus und Islamismus zu bekämpfen, erleben wir eine Politik, die sich weigert, die offene Gesellschaft zu verteidigen. Wo soll das hinführen?

Lesung am 18. April

Im Rahmen des Kulturprogramms zur Verleihung des Karlspreises an Pinchas Goldschmidt veranstaltet das  Katechetische Institut Aachen am Donnerstag, 18. April, 18 Uhr, Eupener Straße 132, eine Lesung mit Burak Yilmaz. Im Anschluss gibt es ein Gespräch mit dem Autor. Karten kosten sechs Euro, Schülerinnen und Schüler, Studierende und Auszubildende haben freien Eintritt. Ticket-Vorverkauf: Buchhandlung „Das Worthaus“, Gregorstraße 2 in Aachen oder per E-Mail an: susanne.senden@bistum-aachen.de.