Stimme aus der West Bank

„Wir werden zur Vernunft kommen müssen, um zu überleben.“

Sumaya Farhat-Naser ist palästinensische Christin und lebt im Westjordanland. Die diplomierte Biologin engagiert sich als Friedenspädagogin. (c) privat
Sumaya Farhat-Naser ist palästinensische Christin und lebt im Westjordanland. Die diplomierte Biologin engagiert sich als Friedenspädagogin.
Datum:
18. Dez. 2025
Von:
Aus der Kirchenzeitung, Ausgabe 33/2025 | Stephan Johnen

„Wir können es uns nicht leisten, nicht zu hoffen“, sagt die palästinensische Christin Sumaya Farhat-Naser. In Gaza habe noch niemand begonnen, den Frieden aufzubauen, und auch für die palästinensische Bevölkerung im Westjordanland sei die Situation bedrohlich. Dennoch lässt sich die Autorin und Friedenspädagogin nicht entmutigen.

Können Sie den Nahost-Konflikt in drei Sätzen erklären?

Sumaya Farhat-Naser: Drei Sätze? (Sie seufzt.) Zwei Völker streiten um ein und dasselbe Land. Beide haben Recht, berufen sich darauf, dass Gott ihnen das Land gegeben hat. Zwei Völker brauchen dieses Land als ihre Heimat. Eigentlich ist es groß genug für alle. Doch wenn Religion missbraucht wird, um andere auszuschließen, und die Politik keine Menschen einschließt, gibt es einen Konflikt. 


Der UN-Teilungsplan für Palästina von 1947 sieht vor, das ehemalige britische Mandatsgebiet in einen Staat für Juden und einen für Araber aufzuteilen. Woran hapert es?

Farhat-Naser: Vor über 30 Jahren sind wir einer Lösung sehr nahe gekommen. Mit der Ermordung Rabins ist dieses Ziel immer weiter in die Ferne gerückt. Es ist die Ideologie, die uns trennt. Israel will keinen Staat Palästina. Seit 18 Jahren spitzt sich die Lage weiter zu, es wurde immer katastrophaler. Die offizielle israelische Politik unter Benjamin Netanjahu ist die einer Besatzungsmacht. Wir erleben in der West Bank Ausgrenzung, Vertreibung, Zerstörung der Häuser und Lebensgrundlage. Jeden Tag gibt es Tote. Man gewöhnt sich an diese Bilder, an dieses Unrecht, an Hilflosigkeit und Aussichtslosigkeit. Wir haben keineswegs Frieden, weder in Gaza, noch in der West Bank. Dabei brauchen wir ihn so dringend. 


Wie leben Sie als Christin im Westjordanland?

Farhat-Naser: Als Christen leiden wir wie die Moslems. Wir sind Palästinenser, da macht Israel keinen Unterschied. In den vergangenen Jahren hat sich niemand getraut, einen Weihnachtsbaum aufzustellen. Wir zwingen uns jetzt dazu, mit Lichtern, ein wenig Musik. Weihnachten kommt wieder, das ist unsere Botschaft. Es ist Teil unserer Religion, Tradition und Gemeinschaft. Die Moslems machen mit. Alle sehnen sich nach dem Schönen und Guten.


Verlieren Sie angesichts der Entwicklungen nicht Ihre Hoffnung?

Farhat-Naser: Wir können uns nicht leisten, nicht zu hoffen. Hoffnung macht kreativ. Wir brauchen Kreativität, um die Herausforderungen zu überwinden, um unser Leben nützlich wirken zu lassen. Deswegen ist mir die Arbeit mit Jugendlichen und Frauen so wichtig. Wir lernen zu überleben, wir lernen das Leben lieben. Wir lassen uns nicht kleinkriegen. Wir klammern uns an die Hoffnung und wissen, dass es besser werden wird. Sonst würden wir eingehen. Es schafft Erleichterung zu wissen, dass es Menschen gibt, die helfen, die beistehen, sich engagieren, Wunderbares machen – auch in schwersten Zeiten der Not. Sei es in den Dörfern der West Bank oder in Gaza.


Was ist der Kern Ihrer Arbeit?

Farhat-Naser: Es ist Bildung zum Frieden. Wir leiten Menschen an, gewaltfrei zu fühlen, zu denken und zu handeln, bringen ihnen bei, was es bedeutet, Frieden zu finden. Die Basis ist, Frieden mit sich selbst zu finden, sich selbst zu erziehen, Verantwortung für Taten und Gedanken zu übernehmen. Nur wenn ich zufrieden bin mit mir selbst, kann ich kreativ mit anderen umgehen. Auf mich kommt es an, dass es eine positive Änderung geben wird.


Ist eine Radikalisierung der Verlust der Fähigkeit, sich selbst trotz aller Not zu lieben?

Farhat-Naser: Wenn ich beginne, mich und alles, was ich mache, zu hassen, dann passt mir das, was die anderen Menschen machen, auch nicht mehr. Alle Menschen werden geboren und alle sind gleich, niemand ist besser als die anderen. Aber alle sind verschieden, merkwürdig, einzigartig und manchmal eigenartig. Aus Vielfältigkeit können Missverständnisse entstehen. Die Kunst ist es anzuerkennen, dass alle anders sind. Jeder wird mit einem Diamanten im Herz geboren, den wir alle zum Glänzen bringen können. Ich übe mit den Schülern, dass es egal ist, wenn etwas mal nicht funktioniert. Wir müssen Wut, Zorn, Verzweiflung und Angst überwinden, wenn wir Kraft zum Weitermachen schöpfen und die Sackgasse verlassen wollen.


Wie könnte ein Weg zum Frieden aussehen?

Farhat-Naser: Im Krieg gewinnt niemand, alle verlieren, die einen mehr als die anderen. Nur durch einen Friedensschluss können wir alle Sicherheit und Frieden gewinnen. Wir müssen umdenken, etwas anderes machen. Alle haben gleiche Rechte, das Land gehört allen Menschen, ganz unabhängig von der Religion. Das Problem ist nicht die Religion, das Problem ist die Politik, aber man benutzt die Religion. Es macht mich traurig, wie giftig die Sprache geworden ist. Es muss uns gelingen, durch Verhandlungen zu einer Einigung zu kommen, zu einem Friedensplan. Meine Angst ist, dass die Leute verzweifeln und alle Menschenrechtskonventionen nicht mehr respektieren, sie alle Ideale und Werte hinschmeißen. Wir werden zur Vernunft kommen müssen, um zu überleben. Wir Palästinenser. Wir Israelis. Wir Europäer.

Ein Leben für den Frieden

Dr. Dr. h.c. Sumaya Farhat-Naser ist so alt wie der Staat Israel. Sie wurde im Juni 1948 geboren und wuchs nördlich von Ramallah auf. Nach dem Abitur studierte und promovierte sie in Hamburg. Als die Biologin in ihre Heimat zurückkehrte, hatten die Israelis Palästina bereits besetzt. Sie engagiert sich seitdem für den Frieden und hat Entwicklungsprojekte zur Förderung von Jugendlichen und Frauen initiiert. Ihr jüngstes Buch „Ein Leben für den Frieden“ ist im Lenos Verlag Basel erschienen.