Stille Nacht

Es ist das Fest des Friedens: Wie es in den Familien gut gelingen kann

(c) Illustration: Zara Schmittgall
Datum:
21. Dez. 2023
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 51-52/2023

Täuscht der Eindruck, oder stehen seit Generationen Heiligabend die gleichen Gerichte auf dem Tisch? Selbst der Baum kommt einem irgendwie bekannt vor, als ob er elf Monate im Raum stehengeblieben wäre, ohne Nadeln zu verlieren. Welche Rolle spielen eigentlich Rituale rund um Heiligabend? Wie lange spielen pubertierende Teenager mit? Setzen wir uns selbst zu sehr unter Druck, damit alles perfekt ist? Im Gespräch mit der KirchenZeitung gibt Dr. Bodo Müller, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie am St.-Marien-Hospital, Tipps für ein (möglichst) stressfreies Weihnachtsfest.

Dr. Bodo Müller ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie  und Psychotherapie am St-Marien-Hospital  der Josefs-Gesellschaft in Düren-Birkesdorf. (c) Josefs-Gesellschaft
Dr. Bodo Müller ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am St-Marien-Hospital der Josefs-Gesellschaft in Düren-Birkesdorf.

Herr Müller, haben Sie eine Ahnung, wie Ihr Heiligabend aussehen wird?

Ich befinde mich in einer neuen Lebenssituation. Insgesamt werden 14 Personen und drei Hunde Heiligabend anwesend sein. Und wir wissen im Grunde noch nicht einmal, ob die Hunde kompatibel sind. Aber ich bezeichne mich selbst als sehr geselligen Menschen und bin gespannt.  

 

Das klingt nach einem Experiment. Läuft Weihnachten bei vielen Familien nicht immer nach dem gleichen Muster ab?

Der Wunsch, dass man es so erlebt, ist da. Ich wurde selbst so sozialisiert. Wir durften bis zum Läuten des Glöckchens den Baum nicht sehen. Es war immer alles perfekt vorbereitet und organisiert. Vorher herrschte super Aufregung. Wir Kinder haben Musikstücke einstudiert oder ein Laienschauspiel ausgedacht. Kurzum: Es war immer sehr witzig, es gab Musik und leckeres Essen. 

 

Klingt maximal stressfrei. Und wir waren auf der Suche nach Tipps für die Krisenintervention unterm Weihnachtsbaum …

Nun, es gab auch die Phase, an der eine meiner Schwestern keinen Bock mehr auf Weihnachten hatte. Und auch mein erwachsener Sohn hat mit Weihnachten nichts am Hut. 

 

Müssen Eltern das aushalten?

Schauen wir uns die Situation der Kinder und Jugendlichen an: Der Stress in den sechs bis acht Wochen vor Weihnachten ist ganz eklatant. In der Schule werden viele Arbeiten geschrieben, alles muss noch bis zu den Ferien erledigt sein. Immer mehr Schülerinnen und Schüler und auch Studierende haben mit Erkrankungen zu tun, die zu einer Leistungsminderung führen. Die Zahl der Depressionen und Angststörungen nimmt zu. Und zu Weihnachten sollen alle plötzlich Höchstleistung bringen und besonders gut funktionieren? 

 

 

Ihr fachlicher und persönlicher Rat?

Mein Credo lautet: Je älter die Kinder werden, desto mehr wollen und sollen sie auch mitbestimmen können. Das ist spannend, denn Kinder können ganz eigene Vorstellungen haben. Wenn wir als Familie einen Konsens finden, den alle akzeptieren, muss niemand etwas „aushalten“, niemand muss funktionieren, und es werden keine unausgesprochenen Erwartungen enttäuscht. Es hilft also, vorher in Ruhe abzufragen, welche Erwartungshaltung alle Beteiligten haben – und wie vielleicht ein tradierter Ablauf doch geändert und angepasst werden kann. 

 

Aber geht es bei Weihnachten nicht genau darum: Dass alles ist wie immer?

Rituale geben Sicherheit. Zwänge entwickeln sich bei Menschen vor allem zur Vermeidung von Ängsten. Sie denken beispielsweise: Wenn ich mir nicht meine Hände wasche, werde ich schwer krank. Der Zwang kontrolliert diesen negativen Gedanken. Alle unsere Rituale basieren darauf, Dinge kontrollieren zu wollen. Der Tagesablauf morgens ist bei denen, die gechillt in den Tag kommen, sehr geordnet, folgt strengen Ritualen. Das gibt ein positives Gefühl. Aber es bedeutet nicht, dass wir gemeinsam nicht neue Formen suchen können. 

 

Welche Rolle spielt das Streben nach Perfektion?

Die angestrebte Perfektion ist mitunter Teil des Problems. Die Erwartungshaltung jedes Gastes ist am Anschlag. Wir haben eine genaue Vorstellung vom Essen, vom Wein, vom Aperitif und von den Geschenken. Die Fallhöhe für Enttäuschungen ist entsprechend hoch. Und Weihnachten haben wir oft mit vielen Menschen zu tun, die man entweder sehr gerne oder am liebsten gar nicht sehen möchte. An diesem Tag kulminiert alles: Wir wollen Ruhe und Ausgeglichenheit erleben, als Gastgeber ein jährlich reproduzierbares tolles Ergebnis präsentieren, alle mit einem positiven Gefühl nach Hause entlassen. Das Weihnachtsfest ist hoch emotional beladen.

Kochen Emotionen deswegen auch schnell schon einmal hoch?

Mein Rat ist, die Erwartungshaltung schon vorab herunterzuschrauben. Wer Weihnachten und den christlichen Hintergrund verstanden hat, sollte dies auch so leben. Allein die Ausgangslage trägt nicht zur Entspannung bei: Eine relativ große Gruppe an Menschen sitzt in einem überhitzten Raum mit wenig Sauerstoff. Der Süßigkeitenkonsum im Vorfeld sorgt dafür, dass viel Insulin ausgeschüttet wird, die Völlerei am Abend verbessert das nicht. Was zur Entspannung beitragen kann, sind alkoholische Getränke – oder es passiert das Gegenteil, und Menschen werden aggressiv. Und dann haben wir noch Tante Frieda am Tisch sitzen, die mies drauf ist, und Onkel Hermann, der die AfD wählt. 

 

Jetzt kommen wir der Sache näher!

Die Kaffeetasse ist halb voll oder halb leer. Ich habe jetzt die Wahl: Stürze ich mich Heiligabend in solche Konflikte oder denke ich mir: Die sind so, wie sie sind, daran kann ich nichts ändern. Es gibt einen Begriff aus der Therapie, der hier passt. Der einzige Weg ist radikale Akzeptanz. Dinge, die ich nicht verändern kann, muss ich akzeptieren. Wir können natürlich auch alles ausdiskutieren, aber dann ist der Abend gelaufen, die Stimmung im Eimer, und ein Ergebnis gibt es auch nicht. Oder wir sprechen über etwas Witziges und holen ein Gesellschaftsspiel heraus. Wir haben die Wahl.  

 

Kommen wir zum nächsten Reizthema: Geschenke. Was raten Sie Eltern und Großeltern mit Blick auf die Bescherung?

Ein Übermaß an Geschenken macht den eigentlichen Sinn von Weihnachten kaputt. Ideal wäre: Jeder bekommt ein Geschenk – und alles ist gut. Warum ist das mit den gestapelten Geschenken unter dem Baum so ein Problem? Geschenke sind schnelle Belohnungen. Um dieses positive Gefühl weiter empfinden zu können, brauchen wir immer mehr Geschenke wie bei einer Droge.  

 

Wer zu viel schenkt, kann sich Weihnachten also schenken?

Im Vergleich zu anderen Generationen haben wir ja heutzutage fast alles. Der innere Wert ist verloren gegangen. Vieles ist so billig geworden, dass man es in Massen kauft und hat. Kleidung, Lebensmittel – wir kaufen viel und schmeißen zu viel weg. Weihnachten ist noch einmal ein Peak. Warum ich dieses Fest feiere, spielt für die meisten Menschen gar keine Rolle mehr. Wir sollten uns auf den Ursprungsgedanken besinnen, eine schöne Zeit miteinander verbringen, die mit vielen positiven Veränderungen verbunden sein kann. Das nimmt auch viele Stressfaktoren heraus.  

 

Wie viel Stress produziert mitunter die Terminplanung?

Spätestens wenn die eigene Familie gegründet wurde, gehen die Diskussionen los. Erst Recht bei Patchwork-Familien kann Weihnachten eine logistische Großoperation werden, die stresst. Wer wann bei wem feiert – diese Frage muss man angehen. Ebenso ob nicht ein rollierendes System sinnvoll ist, bei dem im Wechsel jedes Jahr ein anderer Part der Familie die Gastgeberrolle übernimmt. Alle sollten sich aufschreiben, was sie wünschen – und das gilt es, unter einen Hut zu bringen. Gelingt dies nicht, müssen Kompromisse gefunden werden. Wichtig ist Verlässlichkeit. Auch hier schadet es nicht, die eigenen Erwartungshaltungen herunterzuschrauben.  

 

Gibt es einen einfachen Plan für ein stressfreies Weihnachten?

Klingt banal, ist aber zentral: Planung hilft, damit es eine innere Struktur gibt. Jeder braucht eine Deadline, bis wann er alles festgelegt hat. Sonst neigen wir dazu, alles munter zu schieben, bis es zu spät ist. Wer zehn Tage vor Heiligabend die Organisation und Abläufe skizziert hat, kann entspannt seine To-do-Liste abarbeiten und gerät nicht ins Schleudern. Und auch ein Plan B ist erlaubt – kommt etwas dazwischen, gibt es Kartoffelsalat und Würstchen, oder es wird eine Pizza bestellt. Wir neigen dazu, zu viel ins Fest reinzupacken.

 

Das Gespräch führte Stephan Johnen.