Sprachrohr für Opfer

Betroffenenrat macht eigenen Vorschlag für eine angemessene Entschädigung

Die gewählte Interessensvertretung für Betroffene im Bistum Aachen begann 2022 mit der Arbeit. (c) Kathrin Albrecht
Die gewählte Interessensvertretung für Betroffene im Bistum Aachen begann 2022 mit der Arbeit.
Datum:
29. März 2023
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 13/223 | Kathrin Albrecht

Vor einem Jahr hat der Betroffenenrat im Bistum Aachen seine Arbeit aufgenommen. Er vertritt inhaltlich und strukturell unabhängig vom Bistum die Interessen der Frauen und Männer, die als Kinder und Jugendliche oft jahrelang Opfer sexuellen Missbrauchs durch Priester und Angestellte des Bistums wurden. Dabei geht es vor allem auch um die Frage einer angemessenen Entschädigung. 

„Wir haben mit unserer Arbeit nur dann Erfolg, wenn wir mit allen Teilen der Gesellschaft ins Gespräch kommen“, unterstreicht Paul Leidner, einer der Sprecher des Betroffenenrates, bei der ersten Pressekonferenz des Gremiums. Das Thema müsse mehr ins Bewusstsein der Öffentlichkeit.

Im September 2021 richtete das Bistum Aachen eine Steuerungsgruppe zur Gründung eines Betroffenenrates ein. 110 damals im Bistum bekannte Betroffene wurden angeschrieben und über das Vorhaben informiert. 49 Personen wollten danach über das weitere Vorgehen informiert werden. Bei mehreren Treffen konnten sich die Betroffenen untereinander kennenlernen und ihre Erwartungen an die Arbeit des Rates formulieren. Diese Treffen, berichtet Manfred Schmitz, waren nicht einfach. Man arbeitete daher mit einer Mediatorin, die die Gespräche moderierte. Bei einem dritten Treffen von fünf Frauen und zwölf Männern wurde der Betroffenenrat von sieben Personen, sechs Männern und einer Frau, gewählt.

Ganz bewusst, unterstreicht Paul Leidner, handele es sich um einen Betroffenenrat, nicht um einen Beirat, denn so sei von Anfang an klar, Betroffene wählen die Mitglieder aus ihren Reihen. Niemand werde berufen, wie es in anderen Bistümern der Fall gewesen ist und dort zu erheblichen Dissonanzen in den Gremien geführt hatte.
In diesem Jahr hat der Betroffenenrat zehn Arbeitssitzungen mit jeweils sechs Stunden, ein zweitägiges Treffen und eine Arbeitssitzung mit dem Aachener Bischof Helmut Dieser absolviert.

Auch diese Arbeit sei nicht einfach, berichtet Paul Leidner. Teilweise bringe die Bearbeitung der Tagesordnungspunkte die eigene Lebensgeschichte wieder hoch, schlage das eigene Leid mit durch.

Ansprechpartner sein für Menschen, die von sexuellem und spirituellem Missbrauch durch Mitarbeiter der Kirche im Bistum betroffen sind, ihre Interessen vertreten, Sprachrohr sein, ein Netzwerk bieten für Betroffene, die Beteiligung am ge-
sellschaftlichen Diskurs zur Ächtung sexueller Gewalt beispielsweise durch Ausstellungen oder Vorträge: So versteht der Betroffenenrat seine Arbeit, die er in einem Grundlagenpapier zusammengefasst hat. Und er hat einen Vorschlag erarbeitet, wie Opfer angemessen entschädigt werden können: das „Aachener Modell“.

Kritik am Verfahren der  Deutschen Bischofskonferenz

Zum Hintergrund: Im Januar 2021 wurde von der Deutschen Bischofskonferenz die Unabhängige Kommission für Anerkennungsleistungen (UKA) eingerichtet. Es ist ein interdisziplinär besetztes Gremium aus sieben Fachleuten aus den Bereichen Recht, Medizin und Psychologie. Die Mitglieder stehen in keinem Anstellungsverhältnis zur katholischen Kirche und arbeiten weisungsunabhängig. Die UKA nimmt Anträge auf Leistungen in Anerkennung des Leids von Betroffenen sexualisierter Gewalt entgegen und entscheidet über die Höhe der Leistungen, die ausgezahlt werden.

Doch: „Das Verfahren ist nicht transparent. Als Grundlage dient die gesetzliche Schmerzensgeldtabelle. Dort gibt es solche Traumata, wie sie durch sexuellen Missbrauch entstehen, gar nicht“, erläutert Thomas F. Die seitens der Bistümer in den Raum gestellte Entschädigungssumme von 50000 Euro werde lediglich in 8 Prozent der bearbeiteten Fälle erreicht. In 68 Prozent der Fälle läge die Entschädigung unter 20000 Euro. So wie im Fall eines Mannes, der im Bistum Aachen als Messdiener über vier Jahre missbraucht wurde. Als Langzeitfolge dieser Misshandlung entwickelte er eine chronische Erkrankung, die ihn arbeitsunfähig machte. Die UKA sprach ihm 13000 Euro zu. Das entspricht dem Durchschnittswert für das Bistum Aachen im Jahr 2021. 98 der 222 im Bistum bekannten Fälle sind bei der UKA beschieden worden.

Die augenblicklichen Anerkennungszahlungen sind aus Sicht des Betroffenenrates unangemessen und beschämend. Sie verhöhnen die Opfer sexueller Übergriffe und reißen Narben wieder auf. Sie lindern die Schmerzen nicht und lassen die Verletzungen nicht heilen, sondern sie vertiefen den Bruch zwischen der Kirche und den Betroffenen. Und sie verkennen, dass ein normales Leben für viele Betroffene gar nicht möglich ist.

Der Betroffenenrat schlägt deshalb vor, dass sich das Bistum mit den Betroffenen zu Einzelverhandlungen zusammensetzt und in einem Vergleich ein Schmerzensgeld aushandelt, dass sich im oberen sechsstelligen Bereich bewegt. Die Einmalzahlungen können auch in eine lebenslange Rente umgewandelt werden. „Dieses Verfahren würde auch zur Befriedung innerhalb der Kirche beitragen, und vielleicht weitere Kirchenaustritte vermeiden helfen“, unterstreicht Manfred Schmitz.

Vernetzung wird angestrebt

Bei einem Treffen von Betroffenen mit Bischof Dieser, das vor zwei Wochen stattgefunden hat, habe man das Modell auch besprochen. Aber: „Im Prinzip hat er das Modell so abgelehnt.“ Er sitze, so fasst es F. zusammen, zwischen zwei Stühlen: Einerseits berühren ihn die Erfahrungen der Betroffenen wirklich, andererseits wolle er innerhalb der Bischofskonferenz keine Vorreiterrolle übernehmen, sondern eine gemeinsame Lösung anstreben. Er zeigte sich offen für einzelne Aspekte des Modells und empfahl, das Modell an den Expertenrat der Bischofskonferenz weiterzuleiten, der Ende des Jahres zusammentritt. „Doch das Verfahren würde Jahre dauern“, sagt Manfred Schmitz.

So lange kann und will der Betroffenenrat nicht auf eine Entscheidung warten. Thomas F. erinnert sich bei dem letzten Treffen an eine Begegnung des Bischofs mit einem 86-Jährigen, der sich mit den Worten an ihn wandte: „Ich möchte es bitte noch erleben, dass ich eine Entschädigung bekomme.“ Den Betroffenen laufe schlichtweg die Zeit davon. Manche Fälle lägen zeitlich lange zurück. Die Kinder von damals seien jetzt im Schnitt 60, 70 Jahre alt.

Der Betroffenenrat sucht daher den Kontakt zu anderen Betroffenenräten, um ein Netzwerk zu bilden und den öffentlichen Druck auf die Kirche zu erhöhen. Sehr aufmerksam verfolge man außerdem den Fall des Missbrauchsopfers Georg Menne vor dem Landgericht Köln, der das Erzbistum auf Schmerzensgeld in Höhe von 800000 Euro verklagt. Würde die Klage positiv beschieden, würde das auch viele Betroffene in anderen Bistümern beeinflussen, ist sich Paul Leidner sicher. Und er hofft, dass Bischof Dieser bei den übrigen Bischöfen durch seine Erfahrungen vor Ort ein Umdenken erreichen kann. „Ich habe wahrgenommen, dass sich der Bischof nicht zuletzt auch durch seine neue Rolle dem Thema sehr widmet.“

„Wir haben erreicht, dass er intensiv über die Dinge nachdenkt“, fügt Schmitz hinzu. „Sie dürfen sich mit ihren Erfahrungen der Kirche ruhig zumuten.“ Mit diesen Worten habe sich der Bischof beim Treffen vor zwei Wochen verabschiedet. Der Betroffenenrat hat vor, genau dies zu tun. 

Info

Die Verwaltungsberufsgenossenschaft erkennt die erlittenen Taten im Rahmen einer ehrenamtlichen Tätigkeit als Arbeitsunfall an. Wer als Messdiener oder einer anderen ehrenmatlichen Tätigkeit missbraucht wurde, könne dafür Zahlungen erhalten.
Informationen dazu unter
www.vbg.de.