So wollen wir leben

Menschen mit Behinderung wünschen sich Wohnformen, die zu ihren Bedürfnissen passen

Selbstbestimmt Wohnen_Nachricht (c) Caritas-Lebenswelten
Selbstbestimmt Wohnen_Nachricht
Datum:
25. Okt. 2016
Von:
Andrea Thomas
Wie wir wohnen, wie wir leben, ist Ausdruck unserer Persönlichkeit und Individualität.
Selbstbestimmt Wohnen_Quadratisch (c) Caritas-Lebenswelten
Selbstbestimmt Wohnen_Quadratisch

Unser Zuhause ist unser Rückzugsort, an dem wir ganz wir selbst sein können. Für einen Menschen mit Behinderung ist es oft noch mehr: ein Stück Selbstständigkeit. Wie schwierig der Weg dorthin sein kann, erfahren die Mitarbeiter der KoKoBe (Kontakt-, Koordinierungs- und Beratungsstelle) in der Städteregion immer wieder in ihrer Arbeit.

Wohnen sei das große Thema in der Beratung, sagen Karin Sodekamp-Stöcker und ihr Kollege Michael Schneider übereinstimmend. Die Nachfrage sei groß, ebenso die Unsicherheit. „Viele wissen gar nicht, welche Wohnformen es alles gibt, und wo und wie sie Informationen dazu bekommen können“, sagt Michael Schneider, der mit drei Kolleginnen die KoKoBe im Stadtgebiet Aachen betreut.

Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen oder Betreuer dabei zu unterstützen, die passende Wohnform zu finden, ihnen Informationen zu Anbietern, Anträgen und der Erstellung und Umsetzung eines individuellen Hilfeplans an die Hand zu geben, ist eine Kernaufgabe des vor elf Jahren gestarteten Beratungsangebots. „Die Veränderungen bei den angebotenen Wohnformen spiegelt auch den Werdegang der KoKoBes wieder, die unter anderem eingerichtet wurden, um darauf hinzuweisen“, erklärt Karin Sodekamp-Stöcker, zuständig für den Bereich Alsdorf, Baesweiler und Herzogenrath. Da habe sich viel getan.

War es vor über zehn Jahren noch üblich, dass Menschen mit Behinderung auch im Erwachsenenalter weiter zuhause lebten oder in ein Wohnheim zogen, so gibt es inzwischen auch für diese Menschen eine Reihe weiterer Formen des Wohnens und Lebens: Wohnheime bieten Außenwohngruppen an, die eigenständig, aber weiter ans Haupthaus angegliedert sind. Jeder Bewohner hat sein eigenes Zimmer und teilt sich mit einer Handvoll Mitbewohner Küche, Bad, Gemeinschaftsraum und den Haushalt. Es gibt die Möglichkeit des „Betreuten Wohnens“, zum Beispiel in einer Wohngemeinschaft mit mehreren Menschen mit Behinderung, in denen jeder individuell nach seinem Hilfebedürfnis ambulant betreut wird oder alleine bzw. mit Partner in der eigenen Wohnung. Das kann dann in einem normalen Mehrfamilienhaus oder in einem Apartmenthaus mit anderen Menschen mit Behinderung sein, die sich gegenseitig unterstützen können. Letzteres kann auch hilfreich sein, um soziale Kontakte zu pflegen. Außerdem passen sich die Angebote immer mehr den individuellen Bedürfnissen an. So gibt es mittlerweile auch Wohngruppen speziell für Menschen mit einer Autismusspektrumstörung oder einer Schwerstmehrfachbehinderung.

 

Die Vielfalt an Wohnformen für Menschen mit Behinderung wächst

„Auch bei den Wohnformen für Menschen mit Behinderung heißt es inzwischen ambulant vor stationär“, erläutert Michael Schneider. Neue Wohnheime werden nicht mehr gebaut und die vorhandenen Angebote so gestaltet, dass auch hier Freiraum für Individualität und Selbstbestimmung besteht. Wichtig sei die Öffnung in den Sozialraum hinein, Kontakte zu Vereinen, die Möglichkeit ins Café zu gehen – alles, was Menschen mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung die Teilhabe am ganz normalen Leben ermögliche, sagt Karin Sodekamp-Stöcker. Der Bereich Freizeitgestaltung ist der zweite große Schwerpunkt der KoKoBes.

Die sich verändernden Möglichkeiten und Strukturen seien ein großer Gewinn, findet auch Paul Trenner. Als selbst Betroffener macht er seit drei Jahren „peer-counceling“, Beratung von Menschen mit Handicap für Menschen mit Handicap – „Unsere Erfahrung für deine Zukunft.“ Sie sind zu acht Beratern, die nach einer speziellen Schulung regelmäßig eine offene Beratung in Aachen anbieten, persönlich und bei Bedarf auch telefonisch oder online. Das wird gut angenommen. „Viele fühlen sich bei uns besser verstanden, weil wir eher wissen, wie sie fühlen, und durch diesen persönlichen Aspekt gewinnt die Beratung“, sagt er.

 

Der Weg in ein eigenständiges, selbstbestimmtes Leben ist oft schwer

Wohnen sei auch da immer wieder ein zentrales Thema, die Wünsche nach einem eigenständigeren Leben, aber auch die damit verbundenen Ängste, Unsicherheiten und Hürden. All das kennt er auch aus eigener Erfahrung. „Ich wünschte, es hätte die Möglichkeiten und auch die Beratung zu meiner Zeit schon gegeben“, sagt er.

Seit 2007 lebt er mit seiner Frau in einer eigenen, barrierefreien Wohnung in einem ganz normalen Wohnviertel in Aachen. Der Weg dahin war nicht einfach: entsprechenden Wohnraum zu finden, barrierefrei, zentral gelegen und bezahlbar und dazu das Maß an Hilfen und Unterstützung zu organisieren, das sie für ihren Alltag brauchen. Da finde ein Umdenken in der Gesellschaft statt, aber sehr langsam. Die Nachfrage sei weitaus größer als das Angebot. Die ersten großen Hürde, die ein Mensch mit Behinderung zu meistern hat, der gerne selbstbestimmter und eigenständiger leben möchte, sind meist „Traue ich mir das zu?“ und „Wie sage ich das meinen Eltern?“.

Sich abzunabeln sei schwer, für beide Seiten. Das müssten sich Menschen mit Behinderung oft erst erkämpfen, sagt Paul Trenner. Auch das kennt er aus eigenem Erleben. Nicht, weil Eltern das nicht für ihr erwachsenes Kind wollten, sondern weil sie sich sorgten und Angst hätten, dass es das nicht schafft. „Von Elternseite ist das verständlich. Da sind wir dann oft als Vermittler gefragt, beraten und entlasten“, schildert Michael Schneider. „Bei jüngeren Eltern ist das oft leichter, weil sie besser informiert sind und sich früher damit beschäftigen. Älteren Eltern können sich das oft für ihr Kind nicht vorstellen und sind auch nicht so gut informiert. Da müssen wir dann auch schon mal Feuerwehr spielen“, ergänzt Karin Sodekamp-Stöcker. Dann, wenn Eltern alt werden und es nicht mehr schaffen, für ihren behinderten Sohn oder ihre Tochter zu sorgen. „Ich hatte auch schon Fälle, wo Eltern ihr Kind mit Behinderung mit ins Seniorenheim nehmen wollten“, sagt sie.

Sie und ihre Kollegen werben daher darum, sich frühzeitig und offen mit den Möglichkeiten, die es gibt zu beschäftigen, um eine für alle Familienmitglieder gute Lösung zu finden. Dazu haben sie in der Vergangenheit immer wieder Infoabende mit Podiumsdiskussion veranstaltet.

Im vergangenen Jahr hat die KokoBe erstmals eine „Wohnmesse für selbstbestimmtes Leben in der Städteregion Aachen“ organisiert, die Anbieter und Betroffene mit ihren Angeboten auf der einen und Fragen auf der anderen Seite zusammenbringt. Die Resonanz war so positiv, dass es nun die zweite Auflage gibt. Menschen mit Behinderung und ihre Angehörigen sollen über Präsentationen, Foto-Wohn-Storys, Filme und Theaterstücke einen lebendigen Eindruck bekommen, welche Wohnmodelle es in der Städteregion gibt. „Das macht es für die Betroffenen viel übersichtlicher und logistisch einfacher, wenn sie alles, was sie an Informationen brauchen, an einem Ort finden“, sagt Paul Trenner. Nur so könnten Menschen mit Behinderung die für sie passende Form finden zu wohnen – und zu leben.

Info

Die zweite Wohnmesse der KoKoBe findet am Samstag, 5. November, von 14-18 Uhr in der Parzivalschule, Aachen-und-Münchener-Allee 5 in Aachen statt. Weitere Infos unter: www.kokobe-regionaachen.de Ihre offene Sprechstunde bieten die Peer-Berater jeden ersten Montag im Monat von 16–17.30 Uhr, Welkenratherstraße 116, Aachen, Telefon: 0 15 75/2 12 62 30 sowie jeden dritten Mittwoch im Monat von 18–19.30 Uhr, Adalbertsteinweg 144, Aachen, Telefon: 0 15 75/2 12 62 32, an. Kontakt: Sonja Mauritz, E-Mail: peer.counseling@lewo-aachen.de

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