Michael Günner hat Trisomie 21. Davon will sich der 44-Jährige aber nicht abhalten lassen, ein möglichst eingenständiges Leben zu führen. Mit seiner Mutter Hiltrud Günner hat er der KirchenZeitung berichtet, wie das klappt und vor welchen Herausforderungen sie dabei immer wieder stehen.
Es liegt eine schwere Zeit hinter Michael Günner. Der Tod seines Großvaters hat ihn, man kann es nicht anders sagen, aus der Bahn geworfen. Die Trauer hat ihn so sehr belastet, dass er krank wurde. „Wir haben gedacht, wir verlieren ihn“, sagt Hildtrud Günner, seine Mutter. Dass es in seiner betreuten Wohngemeinschaft zu Schwierigkeiten kam, mit denen der 44-Jährige alleine nicht fertig wurde, hat ihm zusätzlich zugesetzt. „Er hat immer gesagt: ,Mama, ich schaff das schon’“, sagt die 70-Jährige. Aber als er so abgemagert war, dass er alleine nicht mehr richtig gehen konnte, zogen sie und ihr Mann die Reißleine. Sie holten ihren Sohn wieder nach Hause.
Zwei Jahre ist das jetzt her. Inzwischen hat Michael Günner neuen Lebensmut gefasst und redet wieder davon, dass er ausziehen will. Das geht bei ihm nicht so einfach, wie bei anderen Männern seines Alters. Der 44-Jährige hat das Down-Syndrom oder auch Trisomie 21. Er kann sich nicht einfach eine Wohnung suchen, den Umzugswagen bestellen und seine Kisten packen. Michael Günner braucht im Alltag Hilfe. Deshalb kommt für ihn nur eine betreute Wohnform infrage.
Der Aufenthalt bei seinen Eltern soll nur vorübergehend sein. Nach seiner Krankheit macht Michael Günner nun wieder die ersten Schritte in ein eigenständiges Leben. „Seit Januar arbeite ich wieder in einer Werkstatt“, sagt er. Eine Zeit lang hat er in einem kleinen Handwerksbetrieb gearbeitet. Aber da fühlte er sich einsam. „Ich habe meine alten Arbeitskollegen vermisst“, sagt der 44-Jährige. In dem Betrieb war er der einzige mit einer Behinderung. Die Maschinen konnte er nicht bedienen. Für ihn geeignete Maschinen gab es nicht. „Es hat auch für den Handwerksbetrieb die Unterstützung gefehlt“, sagt Hiltrud Günner. Denn, auch wenn es gewollt wird: Inklusion ist kein Selbstläufer. Die Menschen mit Behinderung brauchen Unterstützung und die Unternehmen auch.
Schon als 20-Jähriger hat Michael Günner seiner Mutter klar gemacht, dass er nicht ewig bei seinen Eltern zu wohnen gedenkt. „Mama, ich muss meinen eigenen Weg gehen“, hat er damals gesagt – und ist ausgezogen. Schon vorher hatte er seine Wäsche selbst erledigt, ist mit dem Bus gefahren oder in ein Café gegangen. Für die Eltern war das Loslassen trotzdem nicht so einfach. „Aber man muss das akzeptieren“, sagt die Mutter. Es ist immer ein schmaler Grat zwischen der Unter- und der Überforderung. Was kann sie ihrem Sohn zutrauen, und wo muss sie als seine gesetzliche Betreuerin eingreifen? Seit der Geburt ihres ersten Sohnes bewältigt sie diesen Balance-Akt nun schon.
Sicher, auch bei ihrem zweiten Sohn, der viereinhalb Jahre jünger als Michael ist, gab es immer wieder mal Situationen, in denen die Eltern ihrem Kind etwas zutrauen mussten. Kinder müssen ihre eigenen Erfahrungen machen. „Aber Menschen ohne Handicap haben ganz andere Möglichkeiten, sich Hilfe zu holen“, sagt Hiltrud Günner. Von Anfang an haben sie und ihr Mann versucht, Michael möglichst „normal“ aufwachsen zu lassen. Mit fünf Jahren hat er im Kinderchor mitgesungen, nach der Kommunion war er Messdiener. Heute spielt er im Tambour-Corps mit. „Wir haben immer versucht, Michael trotz seines Handicaps ernst zu nehmen und ihn zu fragen: ,Was möchtest Du machen?’“, sagt Günner. „Wir haben mit unseren Söhnen immer alles besprochen.“
In den Anfangsjahren sind die Unterschiede zwischen den Kindern mit und ohne Handicap noch nicht so groß. Aber irgendwann geht die Schere in der Entwicklung auseinander. Auch Michael hat gemerkt, dass andere Wege gehen konnten, die ihm verwehrt blieben. Den Führerschein wollte er gerne machen. Auch jetzt redet er davon, dass er ein kleines Elektromobil fahren könnte. Aber die Verkehrstüchtigkeit sei nicht da, sagt seine Mutter. Dazu komme die eingeschränkte Sehkraft.
War er manchmal eifersüchtig auf seinen jüngeren Bruder? „Nein, ich habe meinen Bruder lieb“, sagt Michael Günner. Wie geht man als Eltern damit um? „Wir haben immer versucht, Michael etwas anderes anzubieten. Aber man muss das natürlich akzeptieren“, sagt Hiltrud Günner. Auch ihr Sohn musste lernen, sich mit den Gegebenheiten abzufinden.
Es hilft, nicht allein mit der Situation zu sein. Hiltrud Günner ist Vorsitzende des Vereins Kleeblätter 21 in Mönchengladbach. Er unterstützt und berät Familien mit Kindern mit Down-Syndrom. 2014 wurde der Verein gegründet, der aus einer Elterngruppe entstanden ist, die es seit 2008 gibt.
Neben der Beratungsarbeit organisiert der Verein viele Freizeitaktivitäten. Besuche im Theater oder eines Spiels von Borussia Mönchengladbach gehören genauso dazu wie Ausflüge in den Tierpark. Was Familien halt so machen. „Wir haben Michael immer überall hin mitgenommen“, sagt Hiltrud Günner. Manchmal habe es komische Blicke gegeben und die hätten auch wehgetan. Aber im Großen und Ganzen seien ihre Erfahrungen gut.
In den vergangenen 40 Jahren hat sich in Sachen Inklusion zwar einiges verändert. Aber in vielen Bereichen ist es für Eltern immer noch schwer. „Die Hürden, um ein Kind an einer Regelschule inklusiv zu beschulen, sind immer noch hoch“, weiß sie aus dem Austausch im Verein. „Sobald die Inklusionshelfer krank sind, heißt es, dass das Kind nicht zu kommen braucht. Wir sind weit davon weg, eine inklusive Gesellschaft zu sein.“ Viele Eltern müssen sich die Inklusionskraft erst erstreiten.
Michael Günner ist im Schützenwesen aktiv. Sein Verein hat ihn schließlich auch aus seiner schweren Krise geholt. Mit einem Lastenfahrrad hat das Tambour-Corps ihn zur Kirmes abgeholt. Er durfte den Tambour-Stab halten. Bei der Parade ist er in einer Kutsche mitgefahren. An dem Tag hat er wieder angefangen zu essen. Michael Günner war immer ein fröhlicher, lebensbejahender Mensch. Gerade ist er dabei, seine Lebenslust wiederzufinden.