„So monströs, dass es schwer ist, eine Sprache zu finden“

Sexueller Missbrauch hat eine zerstörende Kraft. Für die Opfer, aber auch für die Gesellschaft. Versuch einer Annäherung, um das Unfassbare verstehen zu können

Gerhard Bliersbach ist Diplom-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut und hat viele Jahre als forensischer Sachverständiger gearbeitet. (c) Stephan Johnen
Gerhard Bliersbach ist Diplom-Psychologe und psychologischer Psychotherapeut und hat viele Jahre als forensischer Sachverständiger gearbeitet.
Datum:
25. Okt. 2023
Von:
Stephan Johnen

Verführung, Manipulation, Ausbeutung und Verharmlosung: Die Vorgehensweise pädosexueller Täter ist ein äußerst subtiler und heimlicher Prozess.
Die Praxis ist so monströs, dass auch Psychologe Gerhard Bliersbach im Gespräch mit unserer Redaktion seine Worte sorgsam abwägt. Die Sprachlosigkeit angesichts des Unfassbaren, das Schweigen der zutiefst seelisch verletzten Opfer, kommt Tätern zugute.
„Manche Opfer brauchen Jahre, um die Sprache zu finden und das erlebte Unrecht schildern zu können“, sagt Bliersbach.
Dabei wäre es umso wichtiger, dem Thema Missbrauch und sexualisierte Gewalt generell mehr Platz in der öffentlichen Diskussion einzuräumen. Denn die Dunkelziffer ist hoch, mutmaßt der Psychologe – auch in Familien und am Arbeitsplatz. 

Herr Bliersbach, ist die katholische Kirche eine Täterorganisation?
Das wird man nicht sagen können. Seit 1930 waren oder sind im Bistum Aachen 1270 Priester im Amt; rund zehn Prozent der Priesterschaft ist auffällig geworden mit pädosexuellen Praxen beziehungsweise es gibt Verdachtsmomente.
In vielen Fällen sind Ausmaß, Ort und Qualität dieser Praxen hinsichtlich der Realisierung der Ausbeutung sowie Schädigung der Opfer unbekannt. 
Das Problem ist die unklare Datenlage und die Dunkelziffer. Die katholische Kirche müsste ein äußerst dringendes Interesse haben, die Datenlage zu klären.

Hatten es Täter im „System“ Kirche leichter?
Wie jedes andere System muss sich auch Kirche für die wissenschaftliche Erforschung der Kultur dieses Systems öffnen, um Beziehungen, Bindungen, Verpflichtungen und Abhängigkeiten erkennen zu können.
Wichtig ist ebenfalls die Etablierung von Regeln und Kontrollen. Gibt es einen Verdacht, müssen die Personen bis zur Klärung suspendiert werden.
Bestätigt sich ein Verdacht, ist dies ein Fall für die Staatsanwaltschaft. 

Wie wichtig ist es für eine Aufklärung, möglichst viele Hintergründe zu kennen?
Es gibt eine umfangreiche Forschung und Literatur zur Sozialisation und Entstehungsgeschichte der Pathologie pädosexueller Praktiken und Praxen. Es gibt ein Spektrum dieser Pathologie hinsichtlich der Schwere- und Störungsgrade. In der pädosexuellen Praxis sucht der Erwachsene eine mehr oder weniger süchtige Reparatur seiner tiefen Selbststörung – das Kind ist das Objekt für seine Selbststärkung. Die Praxis arbeitet mit den Techniken der Verführung, Manipulation, Ausbeutung und Verharmlosung. Ihre möglichen traumatischen Folgen sind: zu frühe (nicht entwicklungsgemäße) Begegnung mit einer fremden Sexualität, Störung der Integration und Organisation der eigenen (kindlichen) Sexualität, Überwältigung, Desintegration der Identität und des kindlichen ethischen Gefüges, Zerstörung der Generationsgrenzen und Zusammenbruch des kindlichen Realitätskontaktes, Zusammenbruch des Identitätsgefühls, unklares Schuldgefühl, Zusammenbruch der Sprache, Rückzug und Apathie.   

Oft ist in diesem Kontext von sexualisierter Gewalt zu lesen. Was ist darunter zu verstehen? Ein Erwachsener verführt ein Kind zur pädosexuellen Praxis; er bedrängt es, er drängt es in die Realisierung. Inwieweit das Kind dem folgt, sich fügt und mitmacht, hängt ab von der Form der Realisierung der Verführung.
Die Verführung ist ein stiller, sprachloser Prozess der Überwältigung, die auf das Einverständnis oder zumindest auf die Zusicherung des Kindes zu schweigen drängt. Das Schweigen kommt dem Kind entgegen – seiner Unfähigkeit, die Invasion der Monströsität der pädosexuellen Praxis in seine innere Welt zu versprachlichen und zu beschreiben. 

Wie ist meist die Vorgehensweise pädosexueller Täter?
Das ist ein äußerst subtiler und heimlicher Prozess. Es geht darum, Zugang zu einem Kind zu finden, um ihm die eigene pathologische sexuelle Praxis aufzuzwingen.
Für das Kind ist dies nicht direkt erkennbar. Es gibt den Fall eines forensischen Patienten. Er hat die Kinder einer Frau beaufsichtigt, die ihm diese Aufgabe übertragen hat. Es ging über Wochen. Irgendwann bot er an, dass die Kinder bei ihm übernachten. Die Frau war alleinerziehend, froh, mal einen freien Abend zu haben. Der Mann begann damit, die Kinder sehen zu lassen, dass er sich nackt ins Bett legt. Einige Male später hat er sie aufgefordert, dass sie sich zu ihm legen.
So ging es los. Der Anfang der pädosexuellen Praxis war gemacht. 

Missbrauch ist also ein schleichender Prozess, keine Affekthandlung?
Der Wunsch des Erwachsenen ist vorhanden; er sucht eine Realisierungsform seiner pädosexuellen Fantasie. Er verführt, er manipuliert das Kind. Der Prozess der Rekrutierung, das Finden des Opfers und des Ausbeutens sind oft ganz langwierige Prozesse.
Das Monströse wird dabei heruntergespielt. Kinder sind nicht in der Lage, innerlich einen Widerstand entgegenzusetzen, strikt zu widersprechen.  

Warum rufen die Opfer nicht um Hilfe?
Die pädosexuelle Praxis ist so monströs, dass es schwer ist, dafür überhaupt eine Sprache zu finden.
Die Kinder kommen nicht nach Hause und sagen: „Der hat mich dazu eingeladen, sein Glied anzufassen.“ Die Erfahrungen sind so überwältigend, dass gerade Kinder die Geschehnisse nicht versprachlichen können. Viele Kinder fühlen sich ja auch selbst schuldig.
Sie ahnen, dass da etwas läuft, das nicht in Ordnung ist. Aber sie empfinden auch eine vage Form von Verantwortung, dass sie sich darauf eingelassen haben.
Manche Täter gehen so subtil vor, dass sie ihre Opfer in eine Komplizen-Rolle drängen. Die Kinder treten meist innerlich den Rückzug an, schweigend, brütend und traumatisiert. Manche brauchen Jahre, um die Sprache zu finden und das erlebte Unrecht schildern zu können.

Ist es deswegen so schwer, Täter zu erkennen?
Man kann einem Menschen nicht ansehen, welchen sexuellen Praxen er nachgeht. Pädosexuelle Männer sind Meister im Verführen und Herunterspielen des Monströsen ins Selbstverständliche.
Sie brauchen professionelle Hilfe. Pädosexualität ist eine schwere Pathologie. Ich verwende nicht den Ausdruck „pädophil“, denn er ist falsch.
Die griechische Silbe „phil“ bedeutet Zuneigung und Liebe, doch Pädosexuelle beuten die Kinder für ihre eigenen Bedürfnisse aus, sie zerstören die innere Welt der Kinder.  

Was bricht in der inneren Welt der Opfer zusammen?
Die Grenzen, die man für selbstverständlich hielt. Die Intimitätsgrenzen, die einen schützen, sind auf einmal durchlässig geworden. Man wurde so schwer geschädigt, dass man sich schutzlos fühlt.
Viele Kinder haben keine Möglichkeiten mehr, sich abzugrenzen, sich als ganze Person zu verstehen und zu verhalten. Grundlegende seelische Fähigkeiten, die einen in der Balance gegenüber anderen Menschen halten, sind massiv angeschlagen oder zerstört.
Viele leben mit einer schweren, unklaren Schuld, an etwas beteiligt gewesen zu sein, zu dem man gezwungen wurde. Das Vertrauen der Kinder in Erwachsene, die Vorbilder sein sollten, bricht zusammen.
Erwachsene sind auf einmal andere Leute, der gesamte Blick auf die Welt verändert sich.  

Was können Sie Eltern raten, um Kinder besser zu schützen?
Eltern sind immer die größten Vorbilder. Sie vermitteln gewissermaßen einen angemessenen Umgang mit der Körperlichkeit und der Sexualität. Sie vermitteln ein Gespür dafür, wann es genug ist, ob es jemandem recht ist, berührt zu werden.
Man lernt zu Hause, inwieweit der Umgang miteinander taktvoll, höflich und verständnisvoll ist – oder Grenzen überschritten werden.  

Wo hört Höflichkeit auf und wo beginnt Verführung?
Wir haben ein gutes Gespür dafür. Wir müssen – was nicht so einfach ist – inne halten und uns fragen, ob wir dem anderen genügend Abstand oder Distanz zu uns einräumen – und ihn oder sie nicht überfahren, bedrängen oder manipulieren.
Sind wir unsicher, halten wir uns zurück.

Ist es übergriffig, beispielsweise im Kindergarten ein weinendes Kind in den Arm zu nehmen?
Das lässt sich gut und schnell unterscheiden: Solange es im Interesse des Kindes ist, darf ich es beispielsweise in den Arm nehmen und beruhigen, wenn es hingefallen ist. Will es das? Ist es damit einverstanden?
Ein Erwachsener sollte abwarten und prüfen, ob es dem Kind recht ist.

Welche Auswirkungen haben die Missbrauchsfälle in der Kirche auf das gegenseitige Vertrauen in der Gesellschaft? 
Ich glaube, wenn wir aufmerksam sind, höflich und taktvoll, müssen wir uns keine großen Sorgen über unsere Gestaltungen von Beziehungen machen. Selbstkontrolle ist gut.
Die alten Ideale des Umgangs – Höflichkeit, Takt, Aufgeschlossenheit und Fairness – sind immer noch gute Orientierungen.
Wir können keine Beziehungen auf Basis von Misstrauen führen. Misstrauen lädt nicht zu guten Beziehungen ein. Wir sind nicht hilflos. Wir können unterscheiden zwischen Beziehungen, die uns gut tun, und Beziehungen, in denen wir uns nicht wohl fühlen. Darauf sollten wir achten. Wir dürfen ruhig aufmerksamer werden, genauer hinschauen, achtsamer sein.
Ich empfehle aber eine Form der wohlwollenden Neugier. Wir sollten in vielen Dingen genauer hinschauen, was läuft – und wie es läuft.

Löst Missbrauch nicht eher allgemeine Ohnmacht aus? Bei den Opfern ebenso wie in der Gesellschaft?
Die Opfer sind sicherlich gelähmt aufgrund des Schreckens und der Zerstörung, die in ihnen stattfindet. Aber was macht eine Familie, wenn ihr Kind so geschädigt worden ist? Die Frage lautet, ob sie sich traut, sich das anzuschauen und dem nachzugehen.
Hier geraten wir schnell in eine gesellschaftliche Schieflage: Eigentlich muss jedem Zerstörungsversuch dieser Art nachgegangen werden. Aber das ist ein Riesenthema. Es beginnt schon in den Familien. Eltern sind relativ frei und ungefragt in der Praxis, ihre Kinder aufzuziehen.
Es hat Jahre gedauert, ein vermeintliches Recht zu beschneiden, indem Eltern ihre Kinder nicht schlagen dürfen. Die Diskussion ist eine Chance für unsere Gesellschaft, grundsätzlich über das Thema nachzudenken.

Wo findet noch Missbrauch statt, über den man zu wenig oder gar nicht redet? 
In Familien, im Arbeitsverhältnis, immer dort, wo die Macht eingesetzt wird für die eigenen Bedürfnisse.
Die zentrale Frage lautet: Wie gestalte ich meine Beziehungen? Privat wie in einem institutionellen Kontext. Wir sollten stets versuchen, den anderen zu schützen, nicht ihn in Worten und Taten zu überfahren.
Das gilt für Sympathie und Zuneigung ebenso wie für Hass und Abneigung.

Können Sie verstehen, dass es Menschen gibt, die trotz bewiesener Taten diese leugnen und „ihren“ Priester in Schutz nehmen?
Mit dem Monströsen, das ziemlich grausig ist, will man nichts zu tun haben. Man möchte, dass die eigenen Idole glatt durchs Leben gehen. Der Priester ist angesehen, das kann nicht sein, dem traut das keiner zu. Behörden womöglich auch.
Es kann durchaus Druck und Drohungen geben, wenn solche Fälle öffentlich  werden. Jeder, der anfängt, einen Verständnisversuch zu unternehmen, fängt automatisch an, über sich selbst nachzudenken.
In jedem Leben findet sich so manche Seltsamkeit, die man lieber nicht öffentlich bespricht. Sobald man nachdenkt, fängt man auch an, sich selbst zu hinterfragen. Das ist unangenehm.
Jede Geschichte hat immer zwei Seiten:  Der Vorteil ist, dass die Idolisierung mittlerweile ernüchtert wird. Das ist ein ganz guter Prozess. Wir müssen als Kinder lernen, die Ernüchterung über unsere Eltern auszuhalten.
Und es schadet einer Gesellschaft nicht, Priester in einem realistischen Maßstab zu sehen – sie sind eben auch nur Menschen