Sind Juden noch sicher?

Der Antisemitismus wird wieder gesellschaftsfähig, fürchtet die Jüdische Gemeinde Mönchengladbach

Leah Floh, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Mönchengladbach, kritisiert den Umgang in Deutschland mit Antisemitismus. (c) Garnet Manecke
Leah Floh, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Mönchengladbach, kritisiert den Umgang in Deutschland mit Antisemitismus.
Datum:
31. Mai 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 22/2021 | Garnet Manecke

Die Jüdische Gemeinde Mönchengladbach hat zu einer Solidaritätskundgebung eingeladen: gegen Antisemitismus und für Israel. Vertreter der christlichen Kirchen und der Politik bekräftigten die Verantwortung von Kirche und Gesellschaft für die jüdischen Mitbürger. Die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde machte klar, dass sie sich von Politik und Gesellschaft in Deutschland im Stich gelassen fühlt.

Gemessen an der Menschheitsgeschichte ist es nicht lange her, dass Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland rechtlich mit den Christen gleichgestellt wurden. Erst 1871, mit der Verfassung des gerade gegründeten Deutschen Reiches, also vor rund 150 Jahren, bekamen die Juden in Deutschland die gleichen Rechte wie die christliche Bevölkerung. Bedenkt man, dass in diesem Jahr mit zahlreichen Veranstaltungen daran erinnert wird, dass es bereits seit 1700 Jahren jüdisches Leben in Deutschland gibt, zeigt sich deutlich, wie tief Antisemitismus verwurzelt ist.

Mit der rechtlichen Gleichstellung schien sich das zu ändern. Jüdische Gotteshäuser wurden ab dem Zeitpunkt prachtvoll wie Kirchen gebaut. Juden nahmen am gesellschaftlichen Leben teil, sie kämpften in Kriegen Seite an Seite mit Christen, sie waren in der Kaiserzeit ihrem Staatsoberhaupt treu ergeben. Das alles hat letztlich aber nicht dazu geführt, dass das Judentum akzeptiert wurde. Im Gegenteil: Der Holocaust hat gezeigt, wie dünn der Deckmantel der Zivilisation ist.

Seit in den 1970er Jahren in Deutschland die Auseinandersetzung und Aufbereitung der NS-Vergangenheit begonnen hat, schien es viele Jahre, als ob der Antisemitismus in Deutschland in seine Schranken verwiesen wurde. Nun muss man erkennen, dass er neu entflammt.

Auch in Mönchengladbach hätten am 9. November 1938 die Synagogen gebrannt, erinnert Wolfgang Bußler, katholischer Vorsitzender der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Die Synagoge an der Blücherstraße stand vis-à-vis der katholischen Kirche St. Albertus am Adenauerplatz, der damals noch Kaiserplatz hieß. Während des Krieges wurde St. Albertus zerstört.

„Der Platz der Synagoge wurde sehr schnell nach dem Krieg bebaut mit einem  Wohnhaus“, erinnert Bußler. „Die Albertus-Kirche wurde wieder aufgebaut. Sie ist eingebunden in die Häuserfront. Die neue Synagoge unserer Stadt aber ist bis heute unsichtbar.“ Sie sei eine Hinterhof-Synagoge. „Gotteshäuser, die sich in Hinterhöfen befinden, sind immer ein Hinweis auf Diskriminierung“, sagt Bußler.

Woran man die Synagoge erkennt? An dem Davidstern an der Fassade und der Präsenz der Polizei. Wie in anderen Städten auch wird die Synagoge in Mönchengladbach Tag und Nacht bewacht. „Keine christliche Kirche in dieser Stadt, keine Moschee muss bewacht werden“, sagt Bußler. „Der Polizeischutz für jüdische Einrichtungen in diesem Land ist ein Hinweis auf einen lebendigen Antisemitismus.“

Ein Antisemitismus, bei dem die christlichen Kirchen seit der Antike eine unrühmliche Rolle spielen. So findet sich in etwa 30 Kirchen in Deutschland die Darstellung der „Judensau“. In zahlreichen Kirchen werden Juden in Darstellungen dämonisiert, mit dem Teufel in Verbindung gebracht oder ihnen wird in Heiligenlegenden die Rolle des personifizierten Bösen zugeschrieben.

„Seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil 1965 beginnt die katholische Kirche den Dialog mit dem Judentum“, erinnert Bußler. „Papst Johannes Paul II. sagte bei seinem Besuch der Synagoge in Rom, dass wir zu keiner anderen Religion eine so tiefe Beziehung haben wie zur jüdischen Religion. Sie ist die Wurzel, aus der wir leben. Die Juden sind unsere älteren Geschwister.“

Seit es den Staat Israel gibt, hat der Antisemitismus noch eine weitere Facette erhalten. Bußler zitiert aus einem Schreiben des Vatikans von 1988: „Manchmal dient der Antizionismus als Mäntelchen für den Antisemitismus, nährt sich aus ihm und führt zu ihm hin.“ Ein Phänomen, das in der Gegenwart bei Demonstrationen gegen die Politik Israels, aber auch bei „Querdenker“-Demonstrationen zu beobachten ist. Da werden judenfeindliche Parolen gerufen oder Judensterne getragen, mit denen Juden unter dem Nazi-Regime stigmatisiert wurden. In der Folge der Talkshow „Nachtcafé“ mit dem Titel „Bedroht!“ berichtet Levi Israel Ufferfilge, Leiter einer jüdischen Grundschule in Berlin, dass er mit Freunden vor gut einem Jahr noch gescherzt habe, wann die Juden für die Pandemie verantwortlich gemacht würden. Mit der zunehmenden Entwicklung habe er erfahren müssen, dass Angriffe auf Juden im Alltag zugenommen haben. „Die Atmosphäre, sich zu trauen, etwas laut zu sagen, jemanden offensiv zu beschimpfen, hat auf jeden Fall zugenommen“, sagt er. „Ich habe immer wieder den Eindruck, dass die Leute das Gefühl haben, dass es eine gewisse Akzeptanz dafür gibt.“

Fragt man Leah Floh, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Mönchengladbach, erfährt man, dass auch die Bedrohungen gegen die Jüdische Gemeinde seit Jahren zunehmen. Kritik an Israel ist aus ihrer Sicht eng mit Antisemitismus verknüpft. Floh zeigt Fotos von jüdischen Kindern, die in Auschwitz ermordet wurden. „Reduziert auf Nummern. Hätten wir Israel und den Zahal nicht, wäre es heute vermutlich wieder nichts anderes“, sagt Floh zu den rund 120 Zuhörern. „Vergessen Sie das nicht, wenn sie Israel kritisieren.“
Was Floh besondere Sorgen macht: Zu dem Antisemitismus, den es schon in Deutschland gegeben habe, sei mit der Zuwanderung seit 2015 auch Antisemitismus importiert worden. Der sei nicht ernst genommen worden. „Ich hoffe, dass ein neues Auschwitz nie wieder in Frage kommt, obwohl die anti-israelischen und antisemitischen Demonstranten in Deutschland genau das aktuell wieder fordern“, sagt Floh. „Und was unternimmt Deutschland? Nichts.“

Floh kritisiert scharf, dass in einem Solidaritätsschreiben an die jüdische Gemeinde „die jüngsten Ereignisse der Gewalt im Nahen Osten zwischen Israel und der Hamas auf dem Gebiet der Palästinenser“ bedauert würden. Das sei eine vergiftete Solidaritätsbekundung in Hamas-Terminologie, stellt Floh klar. „Das geht im Zusammenhang mit einem Solidaritätsschreiben an die jüdische Gemeinde überhaupt nicht.“ Der Schreiber wisse das ganz genau und habe deshalb mit Bedacht diese Formulierung gewählt, sagt Floh. „Ein Beispiel für Antisemitismus.“

Antisemitismus zeigt sich nicht nur bei Demonstrationen oder in direkten Bedrohungen. Dass jüdische Männer sich nicht trauen, die Kippa öffentlich zu tragen, dass die Bezeichnung „Jude“ auf Schulhöfen als Schimpfwort genutzt wird, sind Zeichen für das Erstarken des Antisemitismus. „Es ist Pflicht aller Bürger dieses Landes und es ist unsere Christenpflicht, jeder Form des Antisemitismus klar und deutlich entgegen zu treten“, sagte Bischof em. Heinrich Mussinghoff schon vor zehn Jahren. Die Christen sollten schleunigst damit anfangen.

Solidaritätskundgebung der jüdischen Gemeinde Mönchengladbach

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