Die Hospizbewegung Düren-Jülich hat gerade den Abschluss ihres Jubiläumsjahres gefeiert. Seit 30 Jahren engagieren sich im Verein Ehrenamtliche im Thema Leben und Sterben. Gerda Graf ist Ehrenvorsitzende des Deutschen Hospiz- und Palliativverbandes und stellvertretende Vorsitzende der ambulanten Hospizbewegung Düren-Jülich e.V. Gerda Graf blickt im Gespräch mit KiZ-Redakteurin Dorothée Schenk zurück auf drei Jahrzehnte und ein Stück weit in die Zukunft.
Die Lebenswirklichkeiten und Gesellschaft haben sich in den vergangenen 30 Jahren sehr verändert. Wie kam es 1993 zur Gründung des Vereins?
Der Startschuss war tatsächlich das Sterben im Krankenhausbereich, das Alleingelassensein zu Hause und mit Schmerzen sterben. Es gibt eine Frage, die immer von uns gestellt wird: „Was fürchten Sie am meisten, wenn Sie an Ihre letzte Lebensphase denken?“ Früher haben die Menschen gesagt: „Schmerzen“. Die letzten acht Jahre höre ich als Antwort: „Dass ich alleine bin, wenn ich sterbe.“
Da stellt sich die Frage: Was ist schlimmer: der körperliche oder der emotionale Schmerz? Gegen körperliche Schmerzen haben wir jetzt die palliative Medizin. Aber der seelische Schmerz bleibt. Eine Aufgabe der Hospizbewegung ist die Suche nach der Antwort auf die Frage: „Wie können wir es wieder ein Stückchen hoffähig machen, dass zu Hause gestorben werden kann?“ Der Wunsch ist nach wie vor bei allen da.
Haben sich die Menschen dem Tod in der Familie entfremdet?
Ein Beispiel: Letztes Jahr Karneval rief mich ein Notarzt an und sagte mir, dass er einen 90-Jährigen versorge, von dem er ahne, dass dieser nicht ins Krankenhaus möchte. Er fragte mich, ob ich trotz der Feiertage Unterstützung leisten könne. Ich bin dann dahin gefahren, und die Söhne – beide über 60 Jahre alt – haben mir gesagt: „Wir wissen nicht, damit umzugehen. Unsere Mutter ist im Krankenhaus gestorben. Wir haben noch nie jemanden sterben sehen.“
Das ist genau der Punkt. Die Menschen wissen nicht mehr, mit dem Sterben umzugehen. Es war wichtig für die Familie, dass sie Hilfe bekam und wusste, dass sie sind nicht allein ist. Erst das hat die Söhne dazu befähigt, den Vater zu Hause zu behalten. Diese Entfremdung haben wir selbst hervorgerufen. Leider Gottes ist das von beiden Parteien so gewollt. Von der Medizin, die so viel kann, und dem alten Menschen, der hoffnungsvoll glaubt, über 100 Jahre alt werden zu können, und trotz Gesundheit stirbt.
Ist es nicht die Sorge, sich den Vorwürfen der Nahestehenden auszusetzen, man hätte einen geliebten Menschen „sterben lassen“?
Die Angst vor juristischen Konsequenzen ist auch ein Problem der heutigen Medizin. Anstatt das Ethische zu betrachten: Der Mensch hat sein Leben gelebt, er darf gehen. Es gibt eine Patientenverfügung, und damit ist alles erledigt. Diese ethische Sichtweise geht über dem Juristischen verloren.
Hat die Verantwortung in den Senioren- und Pflegeeinrichtungen zugenommen?
Als ich noch im Sophienhof war, hat es in den Akten immer einen grünen, einen blauen und einen roten Punkt gegeben. Sie standen für die Entscheidung, die in den Patientenverfügungen festgelegt waren: Der Mensch möchte nicht mehr ins Krankenhaus, und vor Ort soll das Notwendige getan werden. Der Mensch wünscht eine Behandlung im Krankenhaus oder er möchte nur für eine kurze medizinische Intervention ins Krankenhaus, aber anschließend sofort wieder zurück.
Wenn der Notarzt nachts kommen muss, sollte die Schwester nicht erst die lange Patientenverfügung durchlesen müssen, sondern sofort Klarheit haben.
Was kann die Hospizgesellschaft in der Bewusstseinsänderung tun?
Wir müssen die Menschen heute auf das Lebensende vorbereiten. Das ist ein gesellschaftlicher Auftrag von Hospiz. Dabei helfen Projekte wie „Hospiz macht Schule“ oder „Hospiz und Schule“. Kinder und Jugendliche gehen anschließend anders mit dem Thema Tod und Sterben um und können es den Eltern und Erwachsenen noch einmal anders aufzeigen.
Ich glaube, dass wir wirklich etwas Neues zu tun haben. Wir müssen gucken, wie wir den Menschen netzwerkähnlich begleiten, damit für ihn ein abschiedliches Leben aushaltbar wird – mit seiner Umgebung.
Genausogut bin ich der Meinung, dass jeder jenseits der 50 überlegen muss: Wie will ich am Ende leben? Es gibt die Möglichkeit, etwas selbst zu verfügen und sich einzulassen auf etwas Neues – oder die anderen verfügen es. Wir sprechen immer so viel von Selbstbestimmung, aber wenn sich der Mensch nicht früh genug vorbereitet, macht er seine eigene Selbstbestimmung zunichte.
Wie begleitet der Verein diese „Selbstbestimmung“?
Wir haben 108 Qualifizierte im Kreis Düren, die entweder nach Hause kommen, in Pflegeeinrichtungen, Krankenhäuser oder ins Hospiz gehen. Die Lebensumstände sind so vielfältig, wie es die Menschen sind.
Darum haben auch die Begleitungen selbst Supervisionen, weil sie es aushalten und verarbeiten müssen. Aber es gibt auch durch die gewonnene Sorgekultur eine Initiative, durch die wir noch früher anfangen können. Dadurch ist auch eine Begleitung möglich in der Frage, wie ich meine letzte Lebensphase leben möchte. Wichtig ist, immer nur so lange zu begleiten, bis der andere wieder alleine „gehen“ kann. Diese Tragfähigkeit herzustellen, dass er selbst mit seinem Umfeld zurechtkommt.
Ein weiterer Aspekt ist der der Versöhnung, die viele Familien beschäftigt. Das kann Familie oft deshalb nicht alleine, weil sie einander zu nah ist. Da hilft schon mal jemand aus der Distanz, der vermitteln kann.
Wie ist die Haltung der Hospizgesellschaft zum assistierten Suizid?
Rechtlich nach dem Verfassungsgerichtsurteil ist es so, dass jeder ein Recht dazu hat, wenn er einen Arzt findet, der ihn bei der Selbsttötung begleitet. Der Arzt bleibt straffrei.
Die Hospizbewegung in Deutschland sagt: Es ist nicht nötig. Wenn unsere Arbeit gut ist und unsere Arbeit und das Netzwerk tragen, dann verschwindet sehr oft dieser Gedanke: „Ich will und kann nicht mehr“. Auf der anderen Seite sage ich persönlich: Ich fände es anmaßend, wenn ich jemandem, der unbedingt den Wunsch zu sterben hat, sagen würde: Komm zum Hospiz, und Sterben wird schöner.
Es ist anmaßend von uns, jemanden im Leben festzuhalten ebenso wie zu sagen: Du darfst nicht gehen. Beides fände ich nicht richtig und wäre in meinen Augen auch nicht hospizlich.
Was wünschen Sie sich, damit die Hospizgesellschaft in Zukunft vielleicht sogar besser ihrem Vereinszweck dienen kann?
Das Thema Sorgekultur müsste ausgebaut werden. Ich erlebe immer mehr Menschen – insbesondere ältere Frauen, die am Ende des Lebens nicht mehr klar kommen. Sinnvoll wäre es, so etwas wie einen Lotsen neben sich zu haben, der einen durch den ganzen Dschungel der Bürokratie und dessen, was der Mensch braucht, leitet, damit es gut wird im Sinne der Lebensqualität.