Selbst machen statt zugucken

Ökumenisches Projekt in Sachen Mediennutzung soll für Gefahren im Netz sensibilisieren

Wenn sich statt der Beine nur noch die Finger zum „Swipen“ auf dem Bildschirm bewegen, hat das mentale und körperliche Folgen. (c) pixabay.com
Wenn sich statt der Beine nur noch die Finger zum „Swipen“ auf dem Bildschirm bewegen, hat das mentale und körperliche Folgen.
Datum:
28. Aug. 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 35/2024 | Dorothée Schenk

Nicht erst seit der Europawahl ist Tiktok in der Diskussion. Die App lebt von selbstproduzierten Filmsequenzen, die maximal 30 Sekunden lang sind. Rechte Netzwerke bespielen diese Plattform mit großem Erfolg. Bis zu sechs Stunden täglich nutzen Jugendliche Tiktok nach Aussage von Sascha Römer, Leiter der Jugendeinrichtung der Pfarrei Heilig Geist Jülich. Mit Kollege Franz Meuthrath von der evangelischen Gemeinde startet er jetzt ein Aufklärungsprojekt. 

Sascha Römer (r.) und Franz Meuthrath (l.) planen Workshops zum Mediengebrauch. (c) Dorothée Schenk
Sascha Römer (r.) und Franz Meuthrath (l.) planen Workshops zum Mediengebrauch.

Das Bild, das Sascha Römer und Franz Meuthrath zeichnen, ist ein düsteres. Das stundenlange Konsumieren der Kurzfilmchen auf dem Handy schadet der Konzentrations- und Aufnahmefähigkeit.
Längeren Gesprächen mit Informationsgehalt könne nur noch schwer oder gar nicht mehr gefolgt werden. Körperliche Folgen sind Fettleibigkeit bei gleichzeitig abnehmenden motorischen Fähigkeiten – was sich schon beim einfachen Tischfußballspielen zeige. Dazu komme, dass durch das Gucken der Videos immer wieder Dopamin ausgeschüttet werde, bekannt auch als „Botenstoff des Glücks“, dem eine wichtige Rolle bei Suchterkrankungen zugeschrieben wird.
„Es kommt zu Bewusstseinsveränderungen“, stellen sie fest. Das sind die gesundheitlichen Aspekte. Hinzu kommt die Beeinflussung durch fragwürdige Inhalte, die von den „Kids“ konsumiert werden. Für sie ist Tiktok die Informationsquelle Nummer 1, ob es um Sport, aktuelle Naturkatastrophen oder Nachrichten geht. „Social Media und allgemein Smartphones gehören zur Lebensrealität von Kindern und Jugendlichen. Sie wachen mit Smartphones auf, sie gehen mit Smartphones schlafen. Das Smartphone ist ein Teil von ihnen geworden“, so schildert es Franz Meuthrath vom B.Haus.
Die Folge: Kinder und Jugendliche würden nicht mehr zwischen der analogen Realität und der digitalen Realität unterscheiden.  „Das führt dazu, dass sie über digitale Medien sehr stark beeinflussbar und sogar indoktrinierbar sind.“ Politik und die Gesellschaft der Erwachsenen nähmen die Nutzung des Mobiltelefons und seiner Apps wahr, als wäre es die Leidenschaft für eine Musikrichtung, die sich mit zunehmendem Alter wieder verliere. „Sie verstehen nicht, dass es gesellschaftlich komplett verändernd sein wird“, blickt Franz Meuthrath kritisch in die Zukunft.
Für die Reißleine, die vielzitierte, die zu ziehen ist, sei es längst zu spät. Da sind sich die Sozialpädagogen einig. Untätig zusehen sei aber auch nicht die Lösung. Was also ist zu tun? 

Über niederschwellige Wissensvermittlung zum verantwortlichen Medienumgang

Das Smartphone ist heute für  Jugendliche Teil des täglichen Lebens. (c) pixabay.com
Das Smartphone ist heute für Jugendliche Teil des täglichen Lebens.

Die erste Überlegung, eine Aufklärungsveranstaltung für Eltern und Jugendliche anzubieten, wurde wieder verworfen. Der Grund: Es bestehen Zweifel an der Nachhaltigkeit. Das Ziel ist, die Mediennutzung und ihre Folgen als Teil der Jugendarbeit der beiden Einrichtungen zu betrachten. „Wir wollen im Gespräch bleiben über die aktuellen Trends und auch die Gefahren, so dass eine Art ‚Mischwirkung‘ erreicht wird“, erklärt Sascha Römer.
So fiel die Entscheidung, die Teamer, also die jungen Erwachsenen als Begleiter der Kinder und Jugendlichen im Roncallihaus und B.Haus, zu schulen. Auf diesem Weg werden Multiplikatoren befähigt, den „Kids“ über die Schulter zu gucken und sie auch anzusprechen: „Was du dir da anguckst – hast du da mal irgendwie nach gegoogelt? Das hat eine andere Beziehungsebene“, meint Sascha Römer lächelnd.
Die Termine stehen. „Wir bieten im Dezember eine Teamschulung von uns Fachkräften und unseren Teamern an und werden an diesem Tag direkt die Basis legen für ein Konzept zur medienpädago-gischen Arbeit in den Einrichtungen“, erklärt Sascha Römer. „Wir wollen die sozialen Medien nicht nur verteufeln. Das führt in eine Sackgasse. Es bieten sich ja auch viele Möglichkeiten.“ Der Plan ist, ein Social-Media-Team aufzubauen, in dem die Jugendlichen aktiv mitarbeiten können. Profis sollen die Jugendlichen in die Techniken des Films und Filmschnitts einführen, und so eine „Werkzeugkiste“ an die Hand geben, die dann auch für alle sozialen Medien genutzt werden kann. Im Team können beispielsweise für die Einrichtungen Tiktok-Beiträge erstellt werden.
Bestens vorbereitet ist das Roncallihaus, in dem ein Tonstudio zur festen Einrichtung gehört. Ein weiterer Effekt des Konzepts soll sein, dass gleichzeitig erklärt wird, welche Methoden Extremisten nutzen, um ihre Propaganda gezielt zu platzieren, und welche Informationen – oder Indoktrinationen – ganz bewusst unterschwellig mitgegeben werden. So können Wissen und Hintergrundwissen sich ergänzen. Für die Umsetzung haben sich die Sozialpädagogen auf die Suche nach einer Fachstelle gemacht, die eine Schulung anbieten kann. Sascha Römer hat die erste „Runde“ in einer Online-Fortbildung bereits absolviert und war überzeugt. „Das Thema wird uns länger begleiten.“
Er und Franz Meuthrath denken schon darüber nach, sich perspektivisch Kooperationspartner in den Schulen zu suchen. Aufklärungsveranstaltungen für Eltern mit unterschiedlichen Fachkräften, zu denen auch Mediziner gehören sollten, wären ebenso denkbar. „Aber das ist noch Zukunftsmusik.“