Schulden sind kein Tabu mehr

Die Nachfrage nach Schuldnerberatungen explodiert

Ausgaben-Einnahmen-Bilanz: Am Schaubild wird die finanzielle Lücke deutlich. (c) Deutscher Caritasverband/Agnieszka Krus
Ausgaben-Einnahmen-Bilanz: Am Schaubild wird die finanzielle Lücke deutlich.
Datum:
16. März 2023
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 11/2023 | Andreas Drouve

„Schulden sind kein Tabuthema mehr“, sagt Roman Schlag und holt etwas weiter aus: „Die Hemmschwelle, zur Schuldnerberatung zu gehen, ist nicht mehr so hoch wie früher. Heute ist es allgemein verständlicher, wenn man in eine finanzielle Schieflage gerät und sich sagt: Ich hole mir Hilfe.“ 

Roman Schlag (c) Caritasverband Aachen
Roman Schlag

Schlag arbeitet als Referent für Schuldnerberatung beim Caritasverband im Bistum Aachen, ist Sprecher der Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatung der Verbände (AGSBV) und kennt die gegenwärtige Problematik bis ins Detail. Nach der abflauenden Coronapandemie, bei der manche Bürger ihre finanziellen Reserven aufgebraucht haben, setzten Inflation, Energiekrise und steigende Wohnungsmietpreise zu. Arbeitslosigkeit und Beziehungsprobleme wie Trennungen und Scheidungen erschweren zuweilen die Situation. Die Problematik betrifft ganz Deutschland. Da machen die Regionen des Bistums Aachen keine Ausnahme.

Verbindendes Element ist, dass die Nachfrage nach Schuldnerberatungen allerorten explodiert. Laut einer repräsentativen Umfrage verzeichnen 65 Prozent der deutschlandweiten Schuldnerberatungsstellen im Vergleich zum Jahresbeginn 2022 eine steigende Nachfrage nach Beratung und Unterstützung, hieß es nun bei einem vom Deutschen Caritasverband koordinierten Pressegespräch. Die Beratungsstellen müssen die Menschen verstärkt bei Energie- und Mietschulden, bei der Pfändung von Staatshilfen oder bei der Budgetberatung unterstützen. „Die Krise ist in der Mitte der Gesellschaft angekommen“, betont Roman Schlag und stellt die bedenklichen Züge der Entwicklung heraus: „Auf einmal haben auch jene Sorge, die vorher alles im Griff hatten, aber für die nun ein Finanzgebäude zusammenbricht.“

So suchten zunehmend mehr Erwerbstätige Rat und Lösungsstrategien, sagt Schlag, aber auch Senioren, die plötzlich in die Schuldenfalle geraten. „Altersarmut beschäftigt uns schon lange, bekommt aber nun eine andere Gewichtung“, reflektiert Schuldnerberaterin Maike Cohrs von der Schuldner- und Insolvenzberatung Diakonisches Werk Köln und Region. Die „verstärkte Nutzung von Tafeln und Kleiderkammern“ wertet Roman Schlag als „Seismograph, wie es mit der Armut in Deutschland aussieht“.

Kapazitäten am Limit

Die gestiegenen Nachfragen (rotes Feld/ leicht erhöht und blaues Feld/stark erhöht) bringen die Beratungsstellen ans Limit. (c) Screenshot: Andreas Drouve
Die gestiegenen Nachfragen (rotes Feld/ leicht erhöht und blaues Feld/stark erhöht) bringen die Beratungsstellen ans Limit.

Derzeit suchen pro Jahr etwa 600000 Rat- und Hilfesuchende die 1400 gemeinnützigen Schuldnerberatungsstellen im Bundesgebiet auf. Zu deren Trägern zählen unter anderem die Caritas, die Arbeiterwohlfahrt, das Deutsche Rote Kreuz, die Diakonie, Kommunen und Verbraucherzentralen. Die Arbeit der Beratungseinrichtungen hat jedoch eine Kehrseite, die ein Dilemma vor Augen führt. Die gestiegene Nachfrage, bei der sich in naher Zukunft kein Ende abzeichnen dürfte, hält nicht Schritt mit den personellen Kapazitäten. 
„Die explodierende Nachfrage bringt unsere Beratungsstellen ans Limit“, nimmt Schlag kein Blatt vor den Mund und setzt hinzu: „Die Wartelisten für Termine werden immer länger, und Warten ist bei Geldproblemen nie eine gute Sache.“ Schuldnerberaterin Cohrs, die ihre Erfahrungen aus der Praxis vor allem aus dem Rhein-Erft-Kreis schöpft, führt aus: „Im Moment könnten wir vier Mal so viele Ersttermine ausgeben, aber wir können gar nicht alles bedienen.“ Sie weiß: „Die Haushalte sind stark belastet, besonders wenn Kinder im Hause sind.“
Schnell einen Termin zu bekommen, ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Wobei der Terminus „schnell“ relativ ist. „Schnell“, erklärt Schlag, seien tendenziell „ein paar Wochen“. Allenfalls bei akut existenzbedrohenden Entwicklungen seien Ausnahmen „innerhalb von wenigen Tagen“ möglich, um beispielsweise mit Energieversorgern und Vermietern Kontakt aufzunehmen. „Wir lassen niemanden im Regen stehen“, beschwichtigt Schlag.

Psychosoziale Begleitung

Der verbreitete Mangel an Fachkräften trifft auch die Schuldnerberatungen, bedauert Ines Moers, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung. Nachwuchs ist dem Vernehmen nach nicht in Sicht, zumal die Anforderungen nicht gerade gering sind. Da geht es nicht nur um die Kenntnisse der Materie, sondern auch um mentales Fingerspitzengefühl. „Die psychosoziale Begleitung ist Teil der Beratung“, weiß Roman Schlag. Da müsse man „Druck aus dem Kessel nehmen“ und sich bewusst sein, „Hoffnung und Perspektiven für die Menschen“ zu schaffen – eben auch vor dem Hintergrund, dass die Krise die ganze Familie betreffen kann. 

Wenn Betroffene sich gar nicht mehr trauen, die Post aus Angst vor Forderungen und Inkassoschreiben zu öffnen, ist dies eines der denkbar schlechtesten Zeichen. Die Experten animieren zur Prävention: Je früher ein Beratungsgespräch, desto besser. „Es wäre gut, wenn die Menschen frühzeitig kämen“, betont Schuldnerberaterin Cohrs. Deren Kollege Schlag drückt das aus der Sicht von Betroffenen bildhaft so aus: „Ich bin noch nicht in den Brunnen gefallen, aber sitze am Rand, kippele ein bisschen und frage: Könnt ihr mir helfen, dass ich nicht reinfalle?“

Schuldenfallen lauern überall

Auswertung der Daten: Gemeinsam wird nach Lösungsstrategien  im Ernstfall gesucht. (c) Deutscher Caritasverband/Agnieszka Krus
Auswertung der Daten: Gemeinsam wird nach Lösungsstrategien im Ernstfall gesucht.

Cohrs skizziert einen vorbeugenden Ablauf zur Haushalts- und Budgetplanung wie folgt: „Es gibt Menschen, die mit uns den Haushalt durchgehen und sich fragen: Wo gibt es Einsparmöglichkeiten? Wo kann ich etwas nach hinten schieben?“ Vielleicht, sagt Cohrs, gebe es noch Sozialleistungen, die beantragt werden können. Das Szenario der nächsten Zeit sorgt allerdings schon jetzt für Unruhe unter den Sachkennern. „Ab Frühjahr oder in der zweiten Jahreshälfte werden hohe Nebenkostenforderungen kommen“, prognostiziert Schlag. Das dürfte die Finanzprobleme und Anfragen weiter in die Höhe schießen lassen.

Unabhängig davon lauern Schuldenfallen überall. Beraterin Cohrs prangert an: „Wir stellen seit einigen Jahren fest, dass die Aufnahme von Schulden in bestimmten Gruppen gesellschaftlich immer stärker akzeptiert und wirtschaftlich gewollt ist – sei es bei der Finanzierung des Autos, der Wohnungseinrichtung oder des Smartphones. Das liegt nicht zuletzt an den niedrigen Zinsen in der Vergangenheit.“ Ratenkredite und Angebote wie „Heute kaufen, morgen bezahlen“, die insbesondere seit der Pandemie durch Online-Händler intensiv beworben werden, führen dazu, dass junge Erwachsene bereits in frühen Jahren Zahlungsverpflichtungen eingehen, die ihnen später über den Kopf wachsen können. „Aus vorhersehbar kontrollierter Verschuldung wird schnell Überschuldung, insbesondere bei Menschen mit geringem Einkommen“, erläutert Roman Schlag.

Für die Zukunft hat Ines Moers von der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung einen besonderen Wunsch: „Es muss ein bundeseinheitliches Recht auf eine kostenlose Schuldnerberatung geben.“ Die Bedingungen, bedauert Moers, seien bislang nicht überall gleich. Im Bistum Aachen haben die Menschen Glück. Die Beratung bei den verschiedenen Trägern sei frei von Gebühren, sagt Fachmann Schlag.

Info

Die Webseite der Bundesarbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung liefert unter www.meine-schulden.de umfangreiche Informationen und Tipps.