Ob es etwas gibt, das er nicht kann? Max muss kurz überlegen. Bremsbeläge erneuern, den Reifen wechseln, Lenker und Sattel richten, die Schaltung einstellen… „Nö, eigentlich kann ich alles“, sagt der Schüler selbstbewusst und strahlt. Und wenn es doch einmal eine Lücke im Wissen gibt, hilft Youtube – oder der direkte Austausch mit Schulseelsorger Rudi Hürtgen.
Seit 2016 ist der 59-Jährige an der heutigen Förderschule Athenée Royal in Düren tätig und hat dort wie auch in der Realschule Wernersstraße eine Fahrradwerkstatt eingerichtet. Frei nach dem Motto „Mit Rad und Tat“ werden dort mit Schülerinnen und Schülern deren Räder repariert und instandgesetzt. Und bei Bedarf kann auch immer ein wenig an der Seele geschraubt werden.
Seit 16 Jahren ist der Gemeindereferent mit seinem Kollegen Michael Kruse (Bischöfliche St.-Angela-Schule) in der katholischen Schulseelsorge in Düren eingesetzt. Zuvor hat er viele Jahre in einer Pfarrei gearbeitet. „Ich schätze es wirklich sehr, dass ich zu 100 Prozent für die Schulseelsorge da bin“, sagt er.
Denn Gemeinde und Schule seien zwei getrennte Systeme. Allein Gottesdienstzeiten und Schulzeiten passen schon nicht zusammen. Die Idee zu „Rad und Tat“ entstand schon früh. Rudi Hürtgen hat vor seiner Arbeit als Gemeindereferent in der Erstausbildung Technischer Zeichner gelernt und somit auch viele Einblicke in die Betriebsschlosserausbildung. „Ich habe eine hohe Affinität zu Industrie und Mechanik“, erklärt er. Und eine ebenso hohe Affinität zu Schule und zu der seelsorgerischen Arbeit mit Menschen. Eine Werkstatt ist der ideale Ort, um alles unter einen Hut zu bringen. Der Schulseelsorger legt großen Wert auf eine friedliche und gemeinschaftliche Zusammenarbeit. Schülerinnen und Schüler lernen – unabhängig von ihrer Konfession – nicht nur, Fahrräder zu reparieren, sondern vor allem im Team, wodurch die Schüler lernen, respektvoll miteinander umzugehen und ein gemeinsames Ziel zu verfolgen. Die Fahrradwerkstatt ist ein Ort des Herzens.
„Wir sind Grenzgänger zwischen den Systemen und werden als solche auch wahrgenommen“, erklärt Rudi Hürtgen. Der Nachteil ist oft, dass Grenzgänger auch Einzelkämpfer sind. Zum Glück aber nicht in Düren, wo es ein Team gibt. Der Vorteil der Schulseelsorger: „Wir haben Zeit im System. Wir nehmen uns Zeit, wo als Kirche an anderer Stelle alles nur funktionieren muss“, sagt Rudi Hürtgen.
Die Beziehungsarbeit zu den Schülerinnen und Schülern sei nicht nur sehr wichtig, sie mache auch den Unterschied aus, ob Vertrauen aufgebaut wird, ob sich über die Arbeit in der Werkstatt hinaus weitere Gespräche ergeben, Rat gesucht wird – oder einfach nur ein offenes Ohr eines unparteiischen Zuhörers. „Schule funktioniert einfach anders als der Alltag. Wir haben hier jeden Tag etwas Neues. Manchmal gibt es Tage, die mit null Terminen starten und dann ganz lang werden.“
Nicht nur Schülerinnen und Schüler suchen das Gespräch, durchaus auch Lehrerinnen und Lehrer. Alles, was besprochen wird, bleibt in einem geschützten Raum. Ganz oft spielen Trauerfälle oder Schicksalsschläge eine Rolle. Alles ist freiwillig, offen und auch unabhängig, nicht an Bedingungen geknüpft.
Schüler Max ist heute nicht allein in der Werkstatt. Zusammen mit Jason zentriert er eine Achse. „Mir macht es Spaß, Sachen zu reparieren“, ruft Jason in die Runde. Er arbeitet gerade an einem Hinterrad. Wenn sie die Werkstatt verlassen, haben sie etwas geschafft, sind mit einem Projekt vorangekommen, haben im Idealfall etwas gelernt. „Ich bin gerne hier in der Werkstatt. Besser als Mathe“, sagt Max augenzwinkernd. „Auch das ist Seelsorge. Wenn sich ein Schüler eine Auszeit nehmen kann und sich diebisch freut, Sachen zu reparieren“, sagt Rudi Hürtgen später, wenn die Werkstatt wieder leer ist. „Bei allen Dingen, die wir anbieten, können die Schülerinnen und Schüler auch etwas für das Leben lernen. Ich habe den Ehrgeiz, Dinge zu vermitteln, die sie brauchen können“, fügt er hinzu.
Die Fahrradwerkstätten an zwei Schulen sind natürlich nur ein kleiner (aber feiner!) Teil der Arbeit als Schulseelsorger. Rudi Hürtgen und sein Kollege Michael Kruse bieten feste Sprechstunden an, begleiten den Schulalltag, bereiten Gottesdienste vor – und stehen mitunter auch bei Schicksalsschlägen zur Verfügung. „Wir sind mit Pfarrei und Notfallseelsorge vernetzt. Und die Netze funktionieren über alle Schulen hinweg“, sagt Rudi Hürtgen.
Demut und Bescheidenheit sind aus Sicht des Schulseelsorgers zwei zentrale Tugenden, die zur täglichen Arbeit gehören: „Die Aufgabe als Seelsorger ist es zu schauen, was derjenige, der sich mir anvertraut, gerade braucht.“ Rudi Hürtgen ist froh, dass Kirche „diesen Ort Schule erkannt hat und mit Personal bestückt“. Jeden Tag nähmen viele Schülerinnen und Schüler Seelsorge in Anspruch, obwohl sie es vielleicht gar nicht merkten oder selbst so empfänden.
Gemeindereferent Rudi Hürtgen ist als Schulseelsorger des Bistums Aachen mit seinem Kollegen Michael Kruse für die weiterführenden Schulen in Düren eingesetzt.
Neben den Fahrradwerkstätten „Mit Rad und Tat“ in der Förderschule Athenée Royal und an der Realschule Wernersstraße organisiert er unter anderem am Gymnasium am
Wirteltor Orientierungstage für die Oberstufe, ist ebenfalls in der Beratungsarbeit tätig, begleitet die Vorbereitung und Gestaltung der (Abitur-) Gottesdienste und unterbreitet Angebote wie Kirchenerkundungen im Rahmen des Religionsunterrichts.
„Schulseelsorge bedeutet nicht, dass es ein fertiges Programm gibt. Die Ideen und Wünsche der Schülerinnen und Schüler haben dort immer Platz“, lädt er zu einer Mitgestaltung ein.