Ihr „Baby“ hat letzte Nacht geschrien und war erst nach mehr als einer halben Stunde wieder zu beruhigen. Gut zu wissen, dass sie gleich ihr „Kind“ wieder abgeben und wie andere Jugendliche ein freies Wochenende mit allen Annehmlichkeiten genießen können. Die Babys sind nämlich Puppen und Teil eines Projektes des Sozialdienstes katholischer Frauen (SKF) Viersen.
„Manchmal haben Mädchen die Idee, eine Schwangerschaft könnte eine Perspektive sein, weil sie keinen Bock auf Schule haben“, sagt Claudia Straßburg von der Schwangerschaftsberatung des SKF. „Aber Schulstress oder Stress mit den Eltern oder dem Freund kann nicht durch ein Baby beseitigt werden.“ Mit dem sogenannten Elternpraktikum können Mädchen und auch Jungen das Elternsein ausprobieren und erfahren, dass „Babys nicht nur süß sind, sondern auch viel Aufmerksamkeit brauchen“. Und die meisten Teilnehmer sagen nach dem Projekt, dass sie wahrscheinlich irgendwann gerne ein Kind haben würden, aber nicht in absehbarer Zeit. Zwölf Puppen sind in der Kaldenkirchener Schule im Einsatz. „Europäisch, asiatisch, dunkelhäutig, Jungen und Mädchen“, beschreibt Claudia Straßburg das Sortiment.
Seit 2012 läuft dieses Projekt. So lange schon sind sie und ihre Kollegin Birgit Stölzel im Einsatz an Schulen. „Wir haben uns nie beworben“, sagt Fachfrau Straßburg. „Die Nachfrage ist groß. Und leider nimmt das Projekt Elternpraktikum Stunden in Anspruch, die dann der Beratung fehlen.“ Das Konzept wird an die jeweilige Schulform angepasst. In einer Förderschule sei das Projekt wesentlich mehr an der Praxis orientiert als in einer Realschule. Von den derzeitigen Teilnehmern ist die Sozialpädagogin begeistert: „Die nehmen das ernst und sind voll bei der Sache. Da gibt es kein Getuschel.“ Apropos Getuschel: Das habe es im Bus gegeben und im Supermarkt, erzählt Schülerin Maya, die während der vergangenen Tage mit ihrem Baby im Tragetuch das Licht der Öffentlichkeit nicht gescheut hat: „Als das Baby anfing zu schreien, war die Kassiererin im Supermarkt erst mal erschrocken.“ Die 16-Jährige wusste aber die Eltern immer an ihrer Seite. Das hat die Situation manchmal einfacher gemacht. Und die Eltern sind stolz darauf, dass ihre Tochter das Projekt so konsequent durchgezogen hat.
Wie das mit den Puppen funktioniert und wie sichergestellt wird, dass alle die gleichen Aufgaben erledigen? Jede Babypuppe trägt einen Chip in sich, der zu bestimmten Zeiten ein Weinen auslöst. Auch die Fläschchen und die Windeln sind gechipt. „Wenn das Baby weint, muss man herausfinden, was es möchte“, erklärt Julia. Und Aaliyah ergänzt: „Ich kann mittlerweile am Weinen erkennen, ob es ein Fläschchen oder eine neue Windel braucht oder nur auf den Arm genommen werden möchte.“ Wann gehandelt werden muss, bestimmt der Chip und nicht der gewohnte Tagesablauf der „Eltern auf Probe“. „Als ich mich fertig machen wollte, fing es an zu schreien“, erzählt Juanna, die jetzt weiß, dass sie erst einmal kein Baby haben möchte. Den Arbeitsaufwand pro Baby rechnet Frau Straßburg zusammen: „Mit Windeln wechseln, Füttern, Bäuerchen und Beruhigen kommen wir auf 66 Einsätze für jeden.“
„Zwölf Schüler haben sich für das Projekt angemeldet“, sagt Schulleiter Joachim Sczyrba. „Das hat prima gepasst. Denn es gibt insgesamt nur 13 Puppen.“ Dass keiner zwischendurch abgesprungen ist, sondern alle die schwierige Aufgabe bis zum Ende durchgezogen haben, erfüllt ihn mit Stolz. Dieses Mal sind zwei „Väter“ dabei. Claudia Straßburg: „Wenn Jungs dabei sind, entscheiden sie sich dann ganz bewusst für das Projekt und sind sehr gut. Bei der Auswertung kommen beide auf 95 Prozent.“
Straßburg und Stölzel haben neben den niedlichen Multi-Kulti-Babys auch noch andere Puppen dabei. Das „Alki-Baby“, das „Drogen-Baby“ und das „Schüttel-Kind“. Gerade das „Alki-Baby“ hat bei den Schüler-Eltern wahre Betroffenheit ausgelöst. Jung an Tagen, ist es schon auf Entzug. Und das zeigt die entsprechende Puppe auch mittels Weinen und Zittern. „Das Weinen hört sich anders an“, hat Maya festgestellt. Natürlich sehen diese Babys nicht so niedlich aus. Sie haben dünne Ärmchen und Beinchen und schon ein leicht verhärmtes Gesicht. Gerade an Förderschulen passiere es immer wieder, dass Schüler dabei seien, deren Mütter während der Schwangerschaft getrunken oder sonstige Drogen konsumiert hätten. „Die wissen dann auch, dass ihre Entwicklungsverzögerung oder sonstige Benachteiligung durch das Verhalten ihrer Mutter während der Schwangerschaft verursacht wurde.“
Was soll man machen, wenn das Baby nicht aufhört zu schreien und man selbst die Nerven blank liegen hat und es am liebsten schütteln möchte? „Bringt das Baby in Sicherheit und holt euch Hilfe“, rät Birgit Stölzel. Sie demonstriert den Schülern, was passiert, wenn Babys geschüttelt werden. Die Vorführpuppe hat einen durchsichtigen Kopf. Beim Schütteln leuchten dort Punkte und Linien in verschiedenen Farben auf. Sie kennzeichnen Blutgefäße und
Nervenverbindungen, die in Mitleidenschaft gezogen werden oder sogar reißen. Die Schreie werden anders. Das Zuhören tut weh. Und wieder blitzt eine Farbe im Kopf der Puppe auf. „Der Sehnerv wurde getroffen“, Frau Stölzel schüttelt weiter, und man kann sehen, wie schwer ihr das fällt. „Das rationale Denken und die Motorik“, benennt sie weitere Punkte. „Das kann zu Sauerstoffmangel im Hirn und schließlich zum Tod führen.“ Für einen Moment ist absolute Stille im Klassenzimmer. Maya hat von solchen Fällen schon in der Zeitung gelesen, Lukas auch. Für ihn war das Praktikum „‘Ne gute Erfahrung, weil ich was in Richtung Erzieher machen möchte und auch mal selbst Kinder haben will“. Von beiden Wünschen hat ihn auch das nächtliche Aufstehen nicht abgebracht.
„Das war eine tolle Erfahrung“, resümiert Aaliyah, „der Alltag und die Nächte mit dem Baby. Auch wenn ich wenig geschlafen habe, ich fand das schön.“ Sie kann sich gut vorstellen, später mal Kinder zu bekommen. „Mit 22 oder so.“ Erst möchte sie eine Ausbildung machen. Denn der Unterhalt für ein Baby ist ganz schön teuer. Das haben die Schüler zusammen mit Birgit Stölzel ausgerechnet. Die Standardausrüstung schlägt bei ihnen mit 965 Euro zu Buche. Hinzu kommen wöchentliche Kosten für Windeln und Nahrung.
Die beiden Fachfrauen sind mit dem Verlauf des Projektes zufrieden. Sie konnten die Schüler auch noch einmal mit den unterschiedlichen Verhütungsmethoden vertraut machen. „Das wird zwar auch schon mal im achten Schuljahr behandelt, aber vieles hatten die Schüler wieder vergessen.“ Konkret möchte zum jetzigen Zeitpunkt keiner der zehn Mädchen und zwei Jungen ein Kind haben. „Aber sollte es dennoch passieren“, so Claudia Straßburg, „dann kennen die uns ja schon und wissen, dass sie sich an uns wenden können.“
Wer Hilfe und Unterstützung während der Schwangerschaft braucht oder Fragen zum Thema hat, kann sich an Claudia Straßburg und ihre Kolleginnen wenden:
Tel. 0 21 62/2 49 83 99, E-Mail: schwangerenberatung@skf-viersen.de. Umfassende Informationen gibt es auch unter www.skf-viersen.de.