Schicksale statt Zahlen

Seit drei Jahrzehnten verlegt Gunter Demnig Stolpersteine gegen das Vergessen

Die Namen, Lebensdaten und Schicksale werden von Hand in die Kupferplatte eingeschlagen. Die meisten Steine verlegt Demnig nach wie vor selbst. (c) Stephan Johnen
Die Namen, Lebensdaten und Schicksale werden von Hand in die Kupferplatte eingeschlagen. Die meisten Steine verlegt Demnig nach wie vor selbst.
Datum:
19. Juni 2024
Von:
Kathrin Albrecht

10 x 10 x 10 Zentimeter – das ist die Dimension der Stolpersteine, die vom Kölner Künstler Gunter Demnig verlegt werden. Es handelt sich um einen gegossenen Betonwürfel mit einer darauf verankerten Messingplatte, in der die Namen, Lebensdaten und Schicksale von Menschen eingeschlagen werden, die in den Jahren 1933 bis 1945 von den Nationalsozialisten vertrieben, verfolgt, ermordet oder in den Suizid getrieben wurden. Viele der Stolpersteine liegen am letzten freiwillig gewählten Wohnsitz der Opfer und sind in das Straßenpflaster eingelassen. „Wir geben den Menschen den Namen zurück, damit sie nicht vergessen werden“, sagt Gunter Demnig im Gespräch mit der KirchenZeitung. 

Hier hat der Künstler Stolpersteine in Kreuzau-Drove verlegt. Das Format fügt sich ins Pflaster ein – und dennoch fallen die Steine auf. (c) Stephan Johnen
Hier hat der Künstler Stolpersteine in Kreuzau-Drove verlegt. Das Format fügt sich ins Pflaster ein – und dennoch fallen die Steine auf.

10 x 10 x 10 Zentimeter – das ist die Dimension eines Stolpersteins, der nur mahnend erahnen lässt, welche Dimension der Gewalt und Menschenverachtung hinter der NS-Ideologie steckte. Mehr als 20 Jahre nach dem Start der Aktion wurde ein Stolperstein in Erfurt verlegt – der erste in der thüringischen Landeshauptstadt. Die Verlegung fand im Rahmen des 103. Deutschen Katholikentags statt, die Initiative für die Verlegung kam vom Katholikentag, um ein deutliches Zeichen für das Erinnern an die Opfer des Nationalsozialismus zu setzen.

 

Herr Demnig, wie viele Stolpersteine gibt es mittlerweile?

Den Prototyp habe ich am 16. Dezember 1992 vor dem Kölner Rathaus verlegt. Zwei Jahre vorher begründete eine Spur die Idee zu den Stolpersteinen. Ich habe in Köln die Strecke markiert, auf der die Nationalsozialisten Sinti und Roma zum Abtransport in die Vernichtungslager getrieben hatten. So entstand die Idee zu den Stolpersteinen, zunächst nur als Konzeptkunst. Mittlerweile gibt es über 105000 Stolpersteine in 31 Ländern. Aber es gibt immer noch so viele Opfer, derer nicht gedacht wird. Überall dort, wo die Nationalsozialisten ihr Unwesen getrieben haben. 

 

Was kann ein kleiner Stein bewirken?

Wir geben den Menschen ihren Namen zurück, machen Teile der Lebensgeschichte der Opfer sichtbar, sammeln viele einzelne verlorene Spuren der Menschen auf. Die Stolpersteine selbst hinterlassen Spuren im öffentlichen Raum, halten die Erinnerung an die Menschen wach und mahnen uns, ähnliche Entwicklungen nicht wieder zuzulassen.

 

Mittlerweile liegen Stolpersteine nicht nur in Deutschland, sondern auch in Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Frankreich, Griechenland, Italien, Kroatien, Lettland, Litauen, Liechtenstein, Luxemburg, den Niederlanden, Norwegen, Polen, in der Republik Moldau, in Rumänien, Russland, Schweden, in der Schweiz, in Serbien, der Slowakei, Slowenien, Spanien, Tschechien, der Ukraine, Ungarn und im Vereinigten Königreich. Ist das für Sie ein Erfolg?

Es ist in den vergangenen Jahren viel einfacher geworden, auch im europäischen Ausland Stolpersteine zu verlegen. Es gibt ein großes Interesse. 

Vorbereitung zur Verlegung der Stolpersteine. (c) Stephan Johnen
Vorbereitung zur Verlegung der Stolpersteine.

Macht sich für Ihre Arbeit das Erstarken des Rechtspopulismus bemerkbar?

Im letzten November haben noch sechs Orte die Beschlüsse zurückgezogen, dass dort Stolpersteine verlegt werden sollen. In einem kleinen Ort in Sachsen geschah dies mit Stimmen der CDU, der AFD und einer kleinen Partei. Warten wir es ab. Der Vandalismus hat zugenommen, in Greifswald gab es beispielsweise in der Nacht zum 9. November Beschädigungen an den Stolpersteinen. Die Menschen vor Ort haben als Reaktion darauf so viel Geld gesammelt, dass 36 weitere Steine verlegt werden konnten. Ich bin froh, dass es die Demonstrationen der Demokraten gibt. Das lässt hoffen. Auch die Zahl der Beauftragungen steigt. Das Interesse wird größer, was in unseren Familien passiert, was beispielsweise mit behinderten Angehörigen passiert ist. 

 

Das Thema Euthanasie war sehr lange ein Tabu-Thema, gerade im ländlichen Raum.

Ja, Euthanasie ist wirklich eine Generationensache. Lange wurde geschwiegen. Aber das Interesse der jüngeren Generationen ist wach und wächst. Es stehen plötzlich Fragen im Raum wie: „Oma, wusstest du, dass du eine kleine Schwester gehabt hast?“ 

 

Welche Rolle spielen Kinder und Jugendliche für die Erinnerungsarbeit?

Wir machen sehr viel mit Schülern zusammen, jedes Jahr mit einer neuen Generation von Schülern. Wir binden sie nicht nur gerne bei der Verlegung ein, sondern die Stiftung bietet Handreichungen für die Organisation von Stolpersteinverlegungen mit Schulklassen und für die Biografiearbeit an. Bei den Schülerinnen und Schülern kommt das sehr gut an. Wenn ich in einem Geschichtsbuch etwas von sechs Millionen Opfern lese, ist das eine abstrakte Zahl, wie im Mathematikunterricht. Wenn ich ganz konkret etwas über das Leben von Menschen herausfinde, die Opfer der Nationalsozialisten wurden oder dem Terror entkommen konnten, sind das Einzelschicksale, die mich berühren. 

 

Überprüfen Sie die Rechercheergebnisse und Angaben noch einmal, bevor die Daten in die Messingplatte geschlagen werden?

Jede Angabe wird von uns noch einmal überprüft, darum kümmern sich Mitarbeiter der Stiftung, die beispielsweise noch einmal im Bundesarchiv recherchieren. Die Quellenlage ist bei den jüdischen Opfern des Nationalsozialismus die beste, bei Sinti und Roma ist es oft ganz schwierig, die Schicksale aufzuklären.

 

Der 80. Geburtstag ist langsam in Sichtweite, denken Sie an einen Ruhestand?

Ich verlege weiter Steine, auch meine Ehefrau Katja unterstützt mich dabei. Ich habe die Stiftung gegründet, um die Idee nicht nur zu bewahren, sondern um sie fortzuführen. Auch wenn ich nicht mehr bin, kann es weitergehen, werden Stolpersteine verlegt. 

 

Das Gespräch führte Stephan Johnen.

250 Tage im Jahr unterwegs

Das „Kunst-Denkmal“ Stolpersteine wächst täglich. Künstler Gunter Demnig, Jahrgang 1947, ist rund 250 Tage im Jahr unterwegs, um Gedenksteine zu verlegen. Seit Januar 2015 werden die Stolpersteine von der gemeinnützigen „Stiftung – Spuren – Gunter Demnig“ organisatorisch und operativ betreut. Für das Jahr 2024 gibt es keine freien Verlegetermine mehr. Viele Stolpersteine wurden über Spenden finanziert, aktuell kostet ein Stolperstein 120,– Euro. Davon werden unter anderem das Material, die Organisation, die Beratung, die Nachrecherche, die Herstellung der Steine per Hand, der Transport, die Anreise und Verlegung der Steine durch Gunter Demnig finanziert.