„Remigration widerspricht dem Grundgesetz“

Sprachwissenschaftler Thomas Niehr warnt eindringlich vor Hassrede im Netz und Verrohung der Sprache

Hat sich intensiv mit der Sprache der Politik befasst: Prof. Dr. Thomas Niehr, Sprachwissenschaftler an der RWTH Aachen. (c) Gerd Felder
Hat sich intensiv mit der Sprache der Politik befasst: Prof. Dr. Thomas Niehr, Sprachwissenschaftler an der RWTH Aachen.
Datum:
30. Aug. 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 35 | Gerd Felder

Im Zusammenhang mit dem Potsdamer Geheimtreffen von Mitgliedern der Alternative für Deutschland (AFD) und der Identitären Bewegung hat der Begriff „Remigra-tion“ in der deutschen Öffentlichkeit zu heftigen Reaktionen geführt. Doch woher kommt der Begriff?
Was ist damit gemeint, und warum hatte es nicht schon früher Demonstrationen gegen solche Pläne gegeben? Welche Rolle spielt die Sprache überhaupt in der Politik und insbesondere bei rechtsextremen und rechtspopulistischen Parteien?
Darüber spricht Prof. Dr. Thomas Niehr, Lehrstuhlinhaber für Germanistische Sprachwissenschaft an der RWTH Aachen und 1. Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft Sprache in der Politik mit der KirchenZeitung.

Herr Prof. Niehr, bestimmt Sprache die Weltsicht?

Niehr: Das war zumindest die Ansicht von Wilhelm von Humboldt, und viele Sprachwissenschaftler stimmen mit ihm überein. Das sieht man, wenn man viele Sprachen miteinander vergleicht und feststellt, dass sich mit den verschiedenen Begriffen für unterschiedliche Dinge und Vorgänge auch verschiedene Perspektiven eröffnen. Beispiel: Wir Deutsche putzen unsere Zähne, während andere Völker in ihren Sprachen die Zähne waschen. Wir haben nur ein Wort für „Himmel“, im Englischen aber gibt es mit „heaven“ und „sky“ dafür zwei Wörter mit verschiedenen Bedeutungen.  

Die Weltsicht wird aber auch in einem grundsätzlich-philosophischen Sinn von Sprache bestimmt?

Niehr: Ja, Sprache bildet die Welt nämlich nicht ab, sondern ist die Perspektive, durch die wir sie sehen. Ich vergleiche es stets so: Sie ist kein Spiegel, sondern eine Brille. Wer von „Flüchtlingswelle“ statt von „Fluchtbewegungen“ spricht, der will damit eine Bedrohung und so etwas wie eine Naturkatastrophe andeuten: ein gutes Beispiel dafür, wie man mit Sprache Wirklichkeit konstruiert. Mit dem Wort „Flüchtlingskrise“ ist es ähnlich. 

Dient die Sprache in solchen Zusammenhängen und bei rechtsradikalen Gruppierungen und Parteien auch dem Ziel, eine (Gruppen-)Identität herzustellen?

Niehr: Die Sprache ist zweifelsohne ein Instrument, um sich zu identifizieren und die Einheitlichkeit einer Gruppe zu demonstrieren. Bestes Beispiel ist die Jugendsprache, die dazu dient, sich abzugrenzen, indem sie Begriffe verwendet, die Erwachsene nicht benutzen.

Welcher Sprache bedienen sich die Rechtspopulisten genau? Schauen sie dem Volk wirklich aufs Maul, wie Martin Luther gesagt hätte?

Nach Enthüllungen des Recherche-Teams „Correctiv“ gingen deutschlandweit hunderttausende Menschen auf die Straße – auch im Bistum Aachen. (c) Bistum Aachen/Andreas Steindl
Nach Enthüllungen des Recherche-Teams „Correctiv“ gingen deutschlandweit hunderttausende Menschen auf die Straße – auch im Bistum Aachen.

Niehr: Leute wie der frühere AFD-Parteichef Alexander Gauland behaupten das immer; in Wirklichkeit aber tun sie das nicht. Tatsächlich bieten sie einfache Lösungen für komplexe Probleme an, die aber nicht weit führen. Dafür benutzen sie verschleiernde euphemistische Ausdrücke, die eine Doppelfunktion haben: Sie klingen intellektuell, meinen aber zugleich etwas ganz anderes, als man auf den ersten Blick denkt.
Beispiel: Das Wort „Ethnopluralismus“ klingt zunächst nur nach einer legitimen Vielfalt der Völker, bedeutet aber in Wirklichkeit, dass jedes Volk in seinem Land bleiben soll und eine Vermischung nicht gut wäre.
Ein zweites Beispiel ist der Begriff „Remigration“, eigentlich ein unschuldiges Wort, weil es ursprünglich einmal für die Rückkehr der während der Nazi-Herrschaft emigrierten deutschen Intellektuellen und Schriftsteller nach Deutschland benutzt wurde. Heutzutage aber ist es ein anderer Ausdruck für die Parole „Ausländer raus!“ – die Vorstellungen, die sich damit verbinden, gehen sogar noch weiter: Alle Menschen mit Migrationsgeschichte, die einen deutschen Pass haben, sollen das Land ebenfalls verlassen. Das widerspricht aber elementar dem Grundgesetz. 

Woher kommt der so verstandene, total aufgeladene Begriff „Remigration“ überhaupt? Wer hat ihn aufgebracht?

Niehr: Er kommt aus Kreisen der Identitären Bewegung und ist vor allem durch die Potsdamer Geheimkonferenz bekannt geworden, die vom Autorenkollektiv Correktiv bekannt gemacht wurde. Vor fünf Jahren aber hat die „Tageszeitung“ bereits berichtet, dass einige Rechtsextremisten den Ausdruck „Remigration“ für „Ausländer raus!“ benutzen. Die Idee ist also nicht neu, sondern wurde schon vor Jahren von rechtsradikalen Leitfiguren und Vordenkern wie Götz Kubitschek und Martin Sellner benutzt. Die einzige im Bundestag vertretene Partei, die den Begriff „Remigration“ aufgegriffen hat, ist die AFD. Sie will mit der Nutzung dieses Begriffs ihren Sympathisanten auch verdeckt signalisieren: Ihr wisst ja, was damit gemeint ist. 

Wenn diese Ansichten schon seit Jahren vertreten werden, warum hat die Zivilgesellschaft sich dann erst nach der Potsdamer Konferenz so massiv dagegen gewehrt?

Niehr: Migrationspolitisch waren diese Thesen zwar bekannt, aber vielen war nicht bewusst, dass sie in dieser Form nach dem Motto „Ausländer raus!“ in einem krassen Gegensatz zur Verfassung und zur allgemeinen Menschenwürde stehen. Der „Aufstand der Anständigen“, wie Gerhard Schröder einmal gesagt hat, kam deshalb erst spät.

Gibt es denn auch viele in der deutschen Bevölkerung, bei denen das Ziel der Remigration auf fruchtbaren Boden fällt?

Niehr: Ja, das ist so, bei manchen, etwa bei Menschen, die sich benachteiligt und abgehängt fühlen, kommt das an. Nach ihrer Ansicht sind viele Zuwanderer und Migranten kriminell und werden trotzdem vom Staat alimentiert. Bei den etablierten demokratischen Parteien wird diese Stimmung inzwischen aufgegriffen, indem etwa Bundeskanzler Olaf Scholz erklärt: „Wir müssen massenweise abschieben!“

Warum haben die etablierten demokratischen Parteien denn bei vielen Menschen so große Probleme, mit ihren Positionen durchzudringen? Ist ihre Sprache zu verkopft, zu akademisch, zu abgehoben? Haben Sie einen Ratschlag parat, wie man das vermeiden kann?
Niehr: Das kann man so pauschal auf Parteien bezogen nicht sagen, sondern das hängt von den einzelnen Personen ab. So ist Bundeskanzler Olaf Scholz bekanntermaßen kein großes rhetorisches Talent, während man Wirtschaftsminister Robert Habeck förmlich beim Denken zuhören kann. Gregor Gysi ist ein glänzender Redner. Die Verständlichkeit hängt aber auch sehr stark von dem jeweiligen Fachgebiet ab, das jemand vertritt, und das ist bei Christian Lindner, bei dem es um die Ökonomie geht, sehr kompliziert. Ich kann nur allen in der Politik Tätigen dringend raten, sich verständlich auszudrücken, habe aber auch kein Patentrezept dafür, wie das konkret gelingen kann.

Was bewirken demokratische Parteien damit, wenn sie die Sprache der rechtsradikalen Kräfte übernehmen, über „Obergrenzen“ diskutieren und „Asylbetrug“ anprangern? Tragen sie damit zur Verrohung der Sprache bei?

Mehr Liebe statt Hass: Im Internet und den Sozialen Medien passiert das Gegenteil. Diffarmierung und Hate Speech kommen immer häufiger vor. (c) Bistum Aachen/Andreas Steindl
Mehr Liebe statt Hass: Im Internet und den Sozialen Medien passiert das Gegenteil. Diffarmierung und Hate Speech kommen immer häufiger vor.

Niehr: Sie tun sich auf jeden Fall damit keinen Gefallen, wenn sie dieselbe Sprache benutzen wie die rechtsradikalen Kräfte. Das kann man besonders deutlich an Markus Söder beobachten, der Parolen und Ausdrücke wie „Kriminelle Ausländer raus!“ und „Asylmissbrauch“ inzwischen abgelegt hat. Ich würde jeden, der rechte Parolen benutzt, fragen: Wie wollt ihr das denn umsetzen, was ihr da fordert? Da sehe ich dann mehr Probleme als Lösungsmöglichkeiten. Bestes Beispiel ist der Ruf nach Abschiebungen, eine einfache Forderung, die den dumpfen Volkszorn widerspiegelt. In Wirklichkeit gibt es aber bei Abschiebungen hohe rechtliche Hindernisse, was allerdings oft nicht erwähnt wird.

Sie haben sich in diesem Sommersemester in einem Hauptseminar mit dem Thema „Hate Speech und Meinungsfreiheit“ befasst. Inwieweit schadet die Hassrede im Netz der Meinungsfreiheit?
Niehr: Bei der Hate Speech im Netz werden Menschen heruntergemacht, weil sie einer bestimmten Gruppe angehören. Dabei berufen sich diejenigen, die so etwas tun, sogar noch auf die Meinungsfreiheit, nämlich den Artikel 5, Absatz 1 des Grundgesetzes, in dem es wörtlich heißt: „Eine Zensur findet nicht statt.“ Im Grundgesetz und im Strafgesetzbuch geht es aber auch um Grenzen der Meinungsfreiheit: Holocaust-Leugnung oder Kennzeichen extremistischer Organisationen sind danach verboten. Ich schätze Hate Speech als sehr gefährlich ein, weil die verrohte Sprache im Netz letztlich die entsprechenden Taten erleichtert und vorbereitet. Mich erinnert das an den Sprachgebrauch der Nazis, die die Juden zunächst als Schädlinge und Parasiten bezeichnet haben. Von da aus war es sozusagen ein logischer Schritt, Menschen wirklich zu vernichten. Zwischen Sprechen und Handeln lässt sich oft nur schwer trennen. Indem wir bestimmte Sprechakte vollziehen, handeln wir auch. Denken Sie nur an den Aufruf Donald Trumps, das Kapitol zu stürmen, der umgehend umgesetzt wurde.

Gibt es eine Verrohung der Sprache auf breiter Ebene, und sind die Sozialen Medien daran schuld? Lässt sich etwas dagegen tun?

Niehr: Bestimmte, vor allem rechtsradikale Gruppen tragen zur Verrohung der Sprache bei, indem sie sprachliche Tabus brechen. Denken Sie nur an Björn Höcke, der das Berliner Holocaust-Denkmal als „Denkmal der Schande“ bezeichnete, an seinen AFD-Kollegen André Poggenburg, der Zuwanderer als „Kameltreiber“ titulierte, oder an Thilo Sarrazin, der von „Kopftuchmädchen“ sprach. Die Sozialen Medien tragen wesentlich zur Verbreitung dieser sprachlichen Entgleisungen bei. Aber man kann etwas dagegen tun, nämlich einen Björn Höcke mit seinen Ausreden, warum er die SA-Parole „Alles für Deutschland“ benutzt, nicht durchkommen zu lassen, wie es das Landgericht in Halle jüngst getan hat.

Welche sprachlichen Tabus gibt es heute noch? Und sollte man sie eher achten oder brechen?

Niehr: Sprachliche Tabus werden gesellschaftlich ausgehandelt. Man ist sich dann darüber einig, warum man bestimmte Dinge nicht sagt. Das betrifft etwa die Themen Sexualität, Krankheit oder Körperflüssigkeiten. In der Politik sind das Formulierungen, mit denen man die Menschenwürde anderer herabsetzt, sich in einer bestimmten Weise auf Nazi-Vorbilder bezieht, sie relativiert oder leugnet, Tabus also, die mit der Identität und Geschichte des deutschen Volkes zu tun haben und dazu da sind, Minderheiten zu schützen.
Wir alle sollten uns dessen bewusst sein und diese Tabus achten. Prinzipiell müssen Tabus aber auch der kritischen Reflexion zugänglich sein. Ob sie noch zeitgemäß sind, muss letztlich die Gesellschaft entscheiden. Heutzutage werden sprachliche Tabus vor allem von radikalen Parteien bewusst gebrochen, damit sie – das ist das Ziel – dann irgendwann keine Tabus mehr sind. Dass sie hinterher immer einen halben Rückzieher machen, gehört zur Taktik. So hatte besagter Gauland vor ein paar Jahren in der Leitkultur-Debatte dazu aufgefordert, die damalige Integrationsministerin der Bundesregierung, Aydan Özoguz, „in Anatolien zu entsorgen“, und behauptete hinterher, die Formulierung sei vergleichsweise harmlos.  

Es stimmt also Ihrer Meinung nach nicht, wenn radikale Parteien behaupten, in Deutschland sei die Meinungsfreiheit bedroht, weil sie nicht mehr alles sagen dürften?
Niehr: Wenn die Gesellschaft sich einigt, bestimmte Wörter nicht mehr zu benutzen, dann ist das zu akzeptieren. Es ist aber nicht verboten, sie zu verwenden, wie vielfach behauptet wird. Alle, die sie verwenden, müssen allerdings damit rechnen, dafür kritisiert zu werden.
Man darf bei uns sogar ungestraft behaupten, dass Politiker unfähig und korrupt sind, aber wer hart austeilt, muss auch einstecken können und darf sich darüber nicht wundern. Kritik ist nicht gleich Cancel Culture.

„Remigration“ ist Unwort des Jahres 2023

Das Wort ist in der Identitären Bewegung, in rechten Parteien sowie weiteren rechten bis rechtsextremen Gruppierungen zu einem Euphemismus für die Forderung nach Zwangsausweisung bis hin zu Massendeportationen von Menschen mit Migrationsgeschichte geworden.
Der aus der Migrations- und Exilforschung stammende Begriff, der verschiedene, vor allem freiwillige Formen der Rückkehr umfasst (darunter die Rückkehr jüdischer Menschen aus dem Exil nach 1945), wird bewusst ideologisch vereinnahmt und so umgedeutet, dass eine – politisch geforderte – menschenunwürdige Abschiebe- und Deportationspraxis verschleiert wird.
Politiker Ruprecht Polenz, Mitglied der Jury, kommentiert die Verwendung und Wahl des Ausdrucks zum Unwort folgendermaßen: „Der harmlos daherkommende Begriff Remigration wird von den völkischen Nationalisten der AFD und der Identitären Bewegung benutzt, um ihre wahren Absichten zu verschleiern: die Deportation aller Menschen mit vermeintlich falscher Hautfarbe oder Herkunft, selbst dann, wenn sie deutsche Staatsbürger sind.“