Recht auf Mitbestimmung

Das ist für Menschen mit Behinderung gesetzlich festgeschrieben. Aber können sie es wahrnehmen?

Karin Reisige und Christina Herrmann (2. u. 3. v. l. )mit  einer Gruppe der  Lebenshilfe in Berlin. (c) privat
Karin Reisige und Christina Herrmann (2. u. 3. v. l. )mit einer Gruppe der Lebenshilfe in Berlin.
Datum:
18. März 2025
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 12/2025|Kathrin Albrecht

In Deutschland haben Menschen mit Behinderung dieselben Rechte zur selbstbestimmten Teilhabe wie ihre Mitbürger. Das ist europäisches und deutsches Recht.  Doch wie können sie dieses Recht wahrnehmen? Und wissen sie, dass sie wählen dürfen? Einrichtungen, wie die Caritas Betriebs- und Werkstätten GmbH (CBW) in der Städteregion Aachen, führen in Kooperation mit dem Nell-Breuning-Haus Fortbildungen zur politischen Bildung durch, damit der gesetzliche Anspruch Wirklichkeit werden kann.

Die CBW erstreckt sich in der Städteregion Aachen über sechs Standorte in Eschweiler, Weisweiler, Alsdorf, Herzogenrath, Monschau-Imgenbroich und Würselen mit 1330 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Im Werk 3, im Würselener Indutriegebeit, arbeitet Kerstin Konzer in der Heilpädagogischen Abteilung. Die Abteilung ist ihre Herzensangelegenheit, erzählt sie. Seit 21 Jahren arbeitet sie bei der CBW, zuerst in Alsdorf, seit fünf Jahren ist sie in Würselen. Und seit 2017 ist sie die erste Vorsitzende des Gesamtwerktstattrates der CBW.

Ähnlich wie ein Betriebsrat vertritt der Gesamtwerkstattrat laut Bundesteilhabegesetz die Interessen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Werkstätten. Mit der Betriebsleitung und dem sozialen Dienst werden zum einen innerbetriebliche Angelegenheiten besprochen, aber auch grundsätzliche Fragen wie eine Betriebsschließung über die Weihnachtstage und, dass dann alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entsprechend Urlaub nehmen müssen. Der Gesamtwerkstattrat vertritt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter auch nach außen, beispielsweise bei Treffen mit Politikerinnen und Politikern oder Verbänden. Einmal in der Woche hat Kerstin Konzer eine Sprechstunde für die Mitarbeiter eingerichtet. „Viele kommen auch einfach mal zum Reden, das muss nicht immer mit der Werkstatt verbunden sein“, erzählt sie. Manchmal sind es persönliche Probleme oder einfach nur die Lautstärke im Bus auf dem Weg zur Arbeit. Das beschäftigt die Kolleginnen und Kollegen. Und das können sie nicht so einfach abschütteln.

Es geht um Selbstbestimmung,  Mitbestimmung und um Demokratie

Seminar bei der CBW: Es geht um Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Demokratie. (c) Caritas Betriebs- und Werkstätten GmbH
Seminar bei der CBW: Es geht um Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Demokratie.

Kerstin Konzer macht ihre Aufgabe Spaß. Und sie hat sich darauf auch entsprechend vorbereitet, nimmt dafür regelmäßig an Fortbildungen teil. Erst vor kurzem fand eine Fortbildung zum Thema „Demokratie und Wahlen“ statt. „Da ging es auch um die Frage, was Selbstbestimmung ist“, erzählt Kerstin Konzer, „das ist vielen gar nicht so klar.“ 
Eine Beobachtung, die auch Dr. Christina Herrmann und Karin Reisige vom Nell-Breuning-Haus machen. Die beiden bieten Seminare in politischer Bildung für Menschen mit Behinderung an und sind regelmäßig in Einrichtungen wie der CBW oder der Lebenshilfe zu Gast. In ihren Seminaren geht es immer um drei Kernbegriffe: Selbstbestimmung, Mitbestimmung und Demokratie.

Um abzuschätzen, wie weit das Vorwissen da ist, nähern sich die beiden Dozentinnen dem Thema oft mit dem „Pizzabeispiel“, wie sie es nennen: „Wir fragen immer, wie eine Pizza bestellt wird, wer zum Beispiel über den Lieferdienst entscheidet. Kommen dann fragende Blicke, können wir abschätzen, ob und wie schon über das Thema gesprochen wurde“, sagt Karin Reisige. Ist dieser Grundstein gelegt, dann geht es konkret um das Thema Wahlen. Neben den grundlegenden Fragen, wie „Wie mache ich mein Kreuz“ geht es auch um Parteiinformation. Und da sehen Christina Herrmann und Karin Reisige deutlich Luft nach oben. In schlechter Erinnerung ist Karin Reisige das Programm der Grünen aus der Wahl 2021: „Das war zwar in leichter Sprache, aber dennoch stolze 85 Seiten stark.“

Bei Inklusion ist viel Luft nach oben

Kerstin Konzer im Gespräch mit Fredi Gärtner vom Sozialdienst der CBW, er begleitet sie oft bei Terminen. (c) Caritas Betriebs- und Werkstätten GmbH
Kerstin Konzer im Gespräch mit Fredi Gärtner vom Sozialdienst der CBW, er begleitet sie oft bei Terminen.

Kerstin Konzer findet es wichtig, dass solche Seminare stattfinden, glaubt aber auch: „Viele sind damit überfordert, dass sie wählen gehen dürfen.“

Trotzdem ist es ihr wichtig, dass die Kolleginnen und Kollegen ihre Rechte kennen und auch benennen können, gerade auch im Alltag. Sie selbst erfährt das gerade am eigenen Leib: Seit längerem sucht sie eine neue Wohnung, in der sie so weit wie möglich selbstständig leben kann. Doch es gibt nicht genügend barrierefreie Wohnungen am Markt. So steht sie gerade vor einer Reihe bürokratischer Hürden und weiß nicht, ob sie am Ende umziehen kann.

Ihre Situation ist ein Spiegel, wie Inklusion insgesamt in Deutschland gesehen wird. Vieles sei noch vom „Good Will“ der nichtbehinderten Menschen abhängig, finden Christina Herrmann und Karin Reisige: „Im Prinzip trennen wir immer noch die Menschen. Eigentlich müssten wir das Thema von der anderen Seite her denken. Da wären internationale Vergleiche wichtig, denn andere Länder sind da schon viel weiter.“ 

Etwas differenzierter sehen das Michael Doersch, Geschäftsführer der CBW, und Fredi Gärtner vom Sozialen Dienst der CBW. „Wir sind gegenüber der Politik auch immer in einer Art Rechtfertigungssituation“, sagt Fredi Gärtner. Doch Einrichtungen wie die CBW seien für die Menschen, die hier arbeiten, sehr wichtig, weil sie auch einen geschützten Raum bieten. „Ein großer Teil von ihnen hätte auf dem ersten Arbeitsmarkt gar keine Chance“, stimmt Michael Doersch zu. Das bekomme er auch immer wieder gespiegelt, wenn Mitarbeiter doch einmal versuchen, einen Arbeitsplatz bei den Unternehmen zu bekommen, denen sie zuarbeiten.

Auch Kerstin Konzer hat keine guten Erfahrungen auf dem ersten Arbeitsmarkt gemacht. Sie hat ein Praktikum beim Finanzamt und eine Ausbildung als Telefonistin gemacht, erkrankte dann schwer und galt in der Folge als nicht mehr auf dem ersten Arbeitsmarkt vermittelbar. „Ich bin froh, dass ich jetzt hier bin“, sagt sie und fügt hinzu: „Barrieren abbauen geht nicht auf Biegen und Brechen. Am Ende sind die Beschäftigten die Leidtragenden, weil sie keine Worte haben, sich zu wehren.“

Im Herbst stehen Neuwahlen zum Gesamtwerkstattrat an. Kerstin Konzer möchte wieder für dem Gesamtwerkstattrat kandidieren.