Eine Woche im Heiligen Land, auf dem Programm die wichtigsten biblischen Orte, immer auf den Spuren von Jesus und seinen Jüngern. War die damalige Reisegruppe meist zu Fuß unterwegs, gestaltet sich das moderne Pilgern höchst angenehm. Die Infrastruktur ist gut ausgebaut. Doch angesichts vieler großdimensionierter Parkplätze, auf denen Ende November einige wenige Autos und noch weniger Busse stehen, wird ein Satz in den kommenden Tagen häufiger fallen: „Früher wäre hier alles voll gewesen.“ Oder: „So leer habe ich es noch nie erlebt.“
Früher, das bezeichnet alles, was „vor Corona“ und vor allem vor dem Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 und dem damit verbundenen Krieg war. Die Waffen in Gaza mögen schweigen. Aber viele Pilger sind auch diesen Advent lieber zuhause geblieben. Warum eigentlich?
In Nazaret, in der damaligen römischen Provinz Galiläa, begann die Geschichte von Jesus, untrennbar verbunden mit seinen Eltern Maria und Josef. Unübersehbarer Mittelpunkt in der heutigen Stadt ist die Verkündigungskirche, die an jenen Moment erinnert, als Maria erfuhr, dass sie Gottes Sohn auf die Welt bringen soll. Es sei noch einmal gesagt, was auch an anderen Stellen Gültigkeit hat: 2019, in dem Jahr mit dem Rekordwert an Touristen, drückten sich die Pilger hier die Klinke in die Hand, fuhr ein Bus nach dem anderen vor. 2025 sieht es anders aus: Nicht mehr als 50 Gläubige, darunter viele in Israel lebende katholische Äthiopier, warten an diesem Tag auf die Franziskaner, die zum Angelus rufen, dem Mittagsgebet. Nirgendwo auf der Welt ist man näher am Geschehen des Angelus, denn hier hat der Erzengel Gabriel der jungen Maria gesagt, dass sie ein Kind empfangen wird. Der Rest ist Weltgeschichte.
Kathy Saphir (81), lebt seit 1966 in Israel
Vor dem Gebet erzählt Pater Amjed Sabbara OFM, wie er und seine Mitbrüder aus der ganzen Welt hier in einer Klostergemeinschaft der Franziskaner leben. Sie kommen aus Japan, Argentinien, Chile, den USA und Ghana. Pater Amjed stammt aus einer Familie in Jerusalem, ein Bruder lebt jetzt in Jordanien, die Schwester noch immer in der Hauptstadt. Die gemeinsame Sprache der Gemeinschaft in Nazaret ist Italienisch, doch der Franziskaner sagt: „Es ist nicht nur die Sprache. Es gilt gemeinsam auszukommen.“
Das versuchen die Ordensleute im Kleinen und wollen dazu beitragen, dass es auch im Großen funktioniert: „Wir müssen über Frieden sprechen. Das ist unser Auftrag als Franziskaner.“ Frieden – das ist ein großes Wort. „Der Krieg ist vorbei, der Frieden ist noch nicht da“, fasst Pater Josef San Torcuato OSB, Prior der Benediktiner in Tabgha am See Gennesaret, die Situation nüchtern zusammen. „Wir helfen, dass Jesus hier nicht vergessen wird“, sagt er.
Pater Josef San Torcuato OSB, Prior von Tabgha
Das mag manchmal eine Herausforderung in einem touristisch durch den Krieg leergefegten Land sein, aber weder in der Brotvermehrungskirche in Tabgha, noch in der Benediktiner-Abtei auf dem Berg Zion denkt jemand ans Aufgeben, auch wenn immer noch 80 bis 90 Prozent der Pilger im Vergleich zu den Jahren vor Pandemie und Krieg fehlen. Miteinander teilen, aufeinander aufpassen, das ist für die Ordensleute selbstverständlich, selbst wenn es kompliziert wird. „Wir haben keine andere Wahl“, sagt Pater Josef: „Meine Pflicht ist es, im Anderen den Mitmenschen zu sehen.“
Egal, wohin die Reise führt, egal, mit wem man spricht: Eine gewisse Ratlosigkeit angesichts der aktuellen Situation klingt immer mit, ganz oft verbunden mit Trauer und der Sehnsucht, dass es wieder anders wird. Besser wird. Fällt das Thema entlang der Reiseroute bei Gesprächen mit Taxifahrern, Kibbuz-Bewohnern oder Guides auf die Politik, wird meist sehr zurückhaltend geantwortet – oder ganz im Gegenteil mit Wut, Verzweiflung und mitunter auch offener Resignation.
Pater Ulrich Maria Rauch ofm, Nazaret
Es ist – auch hier – kompliziert. Schon vor dem Krieg gab es Proteste gegen die Regierung, „eine“ Meinung gibt es nicht. Weder zum Krieg, noch zur Frage der Siedlungspolitik, noch zur Zwei-Staaten-Lösung. Unsere Reisegruppe, die vom Staatlichen Israelischen Tourismusbüro eingeladen wurde, erlebt ein Land, in dem es sich auch mit dem deutschen Winter im Rücken ganz wunderbar aushalten lässt, in dem biblische Geschichte spürbar wird. Gastfreundliche Menschen, tolle Eindrücke – und eine mitunter gespenstische Abwesenheit von Pilgern und Touristen.
Hand aufs Herz: Unsicher fühlt sich niemand. Zu keiner Zeit, an keinem Ort. Diese Frage beschäftigt vielmehr die Menschen zuhause, die Familie, die Freunde. An den Checkpoints, die vor allem im Westjordanland die Bewegungsfreiheit der palästinensischen Bevölkerung einschränken, an den meterhohen Zäunen – daran fährt der Bus unbehelligt vorbei. Auch hier: Ratlosigkeit. Ist es moralisch legitim, in dieses Land zu reisen, während in Gaza die Bevölkerung vor den Trümmern ihrer Existenz steht?
Lucas Maier, Leiter des österreichischen Pilger-Hospizes Jerusalem
Ein Dilemma, das Abt Pater Nikodemus Schnabel durchaus nachvollziehen kann. Er verweist aber darauf, dass es vor allem die christlichen Institutionen im Heiligen Land sind, die darunter leiden – und damit auch die Minderheit der Christen in der israelischen Gesellschaft, die überproportional im Tourismusbereich arbeiten. Als Busfahrer, in Hotels und Restaurants, als Guides oder Krippenschnitzer. Abseits der Badestrände in Eilat und an der Küste, wo der Binnentourismus eine große Rolle spielt, kann Tourismus fast mit „Pilgern“ gleichgesetzt werden.
Der Anteil der gesamten Branche ist mit rund vier Prozent am Bruttoinlandsprodukt zwar fast zu vernachlässigen, das Tourismusministerium bemüht sich aber darum, den Tourismus wieder anzukurbeln, berichtet Taimur Mansour vom Ministerium. Während vermehrt wieder Gäste aus Amerika und Asien kommen, halten sich die Westeuropäer eher bedeckt. „Wir sind noch entfernt von der Normalität“, räumt er ein. Viele Menschen hätten vor Augen, in ein Kriegsgebiet zu fahren. „Als ob sie nach Bagdad kommen“, sagt Mansour.
Daniela Cohen, Bewohnerin des Kibbuz Ein-Gedi am Toten Meer
Und die Zerstörungen in Gaza? Gefühlt weit weg, wenn man mit einem Boot über den sehr stillen See Gennesaret fährt. „Wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg wird auch Gaza wieder aufgebaut. Das liegt in der Natur der Menschen“, sagt Taimur Mansour. Nur dürfe es „keine Gefahr mehr für israelische Städte und Zivilisten“ geben. Will heißen: „Jemand anderes als die Hamas muss regieren.“ Wie das gehen soll? Eine gewisse Ratlosigkeit macht sich breit, das Gespräch mäandert in andere Richtungen.
„Mich schmerzt dieser völlig falsche Eindruck, hier wäre alles unsicher“, bricht auch Pater Ulrich Maria Rauch aus Kaufbeuren eine Lanze für eine Reise ins Heilige Land. Seit einem Jahr lebt der Franziskaner dort, er hat im April 2024 vom Garten Getsemani den iranischen Raketenangriff auf Jerusalem miterlebt. Er verschließt nicht die Augen vor dem, was in Gaza geschehen ist, spürt als Gast im Land die „Zerrissenheit der Gesellschaft“, die es schon vor dem 7. Oktober 2023 gab – und die etwas mit der Person des Präsidenten zu tun habe.
„Es gibt große Verletzungen auf allen Seiten, viele Traumatisierungen. Es wird eine lange Zeit dauern, bis die Wunden heilen, das Vertrauen wieder wächst“, sagt er. Auch wenn es derzeit schwer fallen mag, Hoffnung zu schöpfen, so ist er doch überzeugt, dass es Hoffnung gibt. „Wir kommen alle von dem einen Gott her. Es muss uns Christen, Moslems und Juden doch gelingen, den anderen nicht nur als Bedrohung zu sehen, sondern als Bereicherung.“
Vom tief empfundenen Schmerz, der Zerrissenheit und einem verletzten Land kann auch Kathy Saphir berichten, die als Rentnerin seit Jahren in der Abtei Dormitio arbeitet. Als Studentin kam die Belgierin nach Israel, 1966 war das. „Es standen alle zusammen. In guten wie in schlechten Zeiten. Ich wünsche mir, dass Israel wieder so wird“, blickt die 81-Jährige vorsichtig optimistisch in die Zukunft. „Es gibt keine einfachen Lösungen für diese komplexe Situation. Manchmal braucht man vielleicht tiefste Tiefpunkte, um Unmögliches zu denken. Dieser Punkt kann eine Chance sein“, blickt Bruder Johannes Roth, Vize-Kommissar des Heiligen Landes der Deutschen Franziskanerprovinz, auf die Lage in Israel. Ein Weg aus der Ratlosigkeit hin zu einer Lösung könnte es sein, einander wieder wie Menschen zu behandeln, Verständnis für die jeweils andere Seite zu entwickeln und zu zeigen. „Es ist schwierig, aber nicht unmöglich“, findet er.