Viel ist nicht mehr zu sehen, eigentlich fast gar nichts mehr. Die Eisenbahnlinie endet an einem Prellbock, im Pappelwäldchen am Ortsrand von Siersdorf finden sich die Reste eines Schlagbaums.
„Wir befinden uns hier auf dem Gelände des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers der Zeche Emil Mayrisch“, erklärt Pfarrer Ralf Linnartz, der mit seiner Hand in den Wald deutet. Wer dort zwischen den Bäumen sucht, dürfte fündig werden: Betonsockel für die Baracken, Treppenstufen, eine sogenannte Splitterschutzzelle (Einmann-Bunker), die während des Zweiten Weltkriegs vermutlich auch als Folterzelle benutzt wurde.
Es gibt keine Informationstafel mit Hintergründen, keinen Gedenkstein an die Menschen, die während der NS-Gewaltherrschaft an diesem Ort gelitten haben, die durch Arbeit und Hunger langsam ermordet wurden. Das ehemalige Zwangsarbeiterlager/
Kriegsgefangenenlager in Siersdorf ist nur eine von vielen Stationen der Fahrradwallfahrt zu Gedenkstätten der NS-Gewaltherrschaft im Nordkreis Düren, darunter auch die Villa Buth und Gut Linzenich, Wohnsitz des Jülicher Landrats Ulrich Freiherr von Mylius in der NS-Zeit.
„Nie wieder – dieses Versprechen klingt angesichts der gegenwärtigen Entwicklungen oft abgenutzt“, begrüßt Ralf Linnartz, vom Bischof für die Pastoral in den Umbrüchen der Arbeitswelt bestellt, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der rund 35 Kilometer langen Tour am Bahnhof von Jülich. „Aber das Versprechen gewinnt an Kraft zurück, wenn Namen genannt, Orte gezeigt, konkrete Geschichten erzählt werden. Das wollen wir heute tun“, verknüpft er die Verankerung des Gedenkens im Hier und Jetzt mit der Frage: „Was tun wir heute?“ Gegen Gewalt, gegen Rechtspopulismus, gegen Ausgrenzung und gegen Unrecht.
„Wer vor der Vergangenheit die Augen verschließt, wird blind für die Gegenwart.“ Diese Mahnung des ehemaligen Bundespräsidenten Richard von Weizäcker begleitet die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf der Fahrt durch den Dürener Nordkreis. Unter der Überschrift „Gemeinsam erinnern. Für eine Zukunft in Frieden, Freiheit & Würde“ hatte der Katholikenrat der Region Düren in Kooperation mit dem DGB Kreisverband Düren-Jülich, der IGBCE Ortsgruppe Düren und dem Jülicher Geschichtsverein zu der Fahrrad-Wallfahrt eingeladen. Bereits im vergangenen Jahr fand eine solche Fahrrad-Wallfahrt zu Gedenkstätten der NS-Herrschaft statt, damals aber im südlichen Kreis Düren.
Das Lager am Rande der Zeche Emil Mayrisch wurde während des Krieges für sowjetische Kriegsgefangene errichtet (Arbeitskommando 15), die hier unter unmenschlichen Bedingungen als Arbeitssklaven missbraucht wurden. 1943/44 wurden auch italienische Kriegsgefangene dort interniert, die jedoch besser behandelt wurden als die russischen Soldaten. Bis zur Erweiterung gab es zunächst sieben Unterkunftsgebäude, drei kleinere Schuppen, einen Hundezwinger und die Lagerküche. Angaben zur Belegung schwanken zwischen 300 und 2400 Personen In eine Baracke (6 x 32 Meter) wurden jeweils 150 Menschen gepfercht. Ein vier Meter hoher Stacheldrahtzaun umgab das Areal.
„Neben der militärischen Wachmannschaft kam eine ‚Rentner-Ersatztruppe‘ mit scharfen Hunden zum Einsatz“, berichtet Ralf Linnartz. „Es gibt Berichte von sadistischen Quälereien der Gefangenen.“ Nur wenige Lagerinsassen kamen tatsächlich bei den Abtäuf-Arbeiten des Steinkohlebergwerks zum Einsatz, das erst 1952 nach dem Krieg in Betrieb genommen wurde. Die meisten Kriegsgefangenen kamen in den benachbarten Bergwerken „Anna“ und „Maria“ zum Einsatz. Einige Internierte wurden zur Feldarbeit herangezogen. Die Kombination aus starker Unterernährung und hoher Arbeitsanforderung forderte – von den Nationalsozialisten so eingeplant – viele Opfer. Die Toten wurden zum Teil auf dem nicht belegten Teil des jüdischen Friedhofs in Langweiler begraben. „Nach dem Krieg wurde auf dem Gelände ein Ledigenheim und ein Bergmannsheim der Zeche errichtet“, berichtet Linnartz.
Wie schnell sich die Nationalsozialisten ab 1933 die Macht sicherten und Kritiker verstummen ließen, zeigt die Einrichtung eines „wilden Konzentrationslagers“ in der Jülicher Zitadelle. Direkt nach der sogenannten Machtergreifung Hitlers richteten SA und SS in der Zitadelle ein „Schutzhaftlager“ ein, in dem 1933/34 vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten aus Jülich und Umgebung festgehalten wurden. Laut Zeugenaussagen wurden die Inhaftierten von SS- und SA-Mitgliedern misshandelt und gefoltert. „Die Polizei stand damals weiterhin unter kommunaler Verantwortung, die Polizisten waren städtische Mitarbeiter“, wirft Historiker Guido von Büren die Frage auf, welche Rolle die Polizei damals spielte.
Die „Geständnisse“ der Inhaftierten wurden jedenfalls ganz offensichtlich mit Gewalt erzwungen. Im Zuge des 1951 in Aachen geführten „Zitadellen-Prozesses“ sagten ehemalige Polizisten aus, dass sie die Inhaftierten nur zu den Verhören gebracht und wieder zur Zelle zurückbegleitet hätten. „Am Ende standen für einige Täter aus den Reihen von SS und SA anderthalb Jahre Haft“, berichtete von Büren. Das Gericht habe unter anderem angeführt, dass „politische Gegner keine klassischen Zeugen sind“. In der Rückschau der Ereignisse, des Unrechts und des systematischen Mordens der Nationalsozialisten zumindest aus heutiger Sicht kaum nachvollziehbar.
Anhand des Schicksals der Familie Marcus Abraham, von der nur zwei Kinder die NS-Gewaltherrschaft überlebt haben, schildert Ralf Linnartz in Aldenhoven das Schicksal vieler jüdischer Bürger, denen in der NS-Zeit nicht die Flucht gelang. „Dem Rassenwahn der Nationalsozialisten fielen 44 Personen aus Aldenhoven und den zum Kernort gehörenden Ortschaften zum Opfer“, sagt Linnartz. 1941 war jegliches jüdisches Leben in Aldenhoven erloschen, dessen Wurzeln vermutlich ins späte 13. Jahrhundert zurückreichen.
Das 2009 eingeweihte Gedenkmonument steht in Sichtweite der ehemaligen Fabrik von Moritz Salomon, dem jüdischen Bethaus an der Alten Turmstraße und dem israelischen Friedhof an der Gerberstraße. Zwei Familienmitglieder waren zeitweise in der „Villa Buth“, die ebenfalls Station der Radwallfahrt ist, interniert. Dort wurden auf Verfügung des Landrats in Jülich vom 15. März 1941 sämtliche Juden, die noch im Kreis Jülich wohnten, auf engstem Raum interniert. Sie mussten die eigenen Wohnungen räumen und in das sogenannte „Judenhaus“ ziehen. Ein Vorgang, der sich überall wiederholte und der die Überwachung und nachfolgende Deportation erleichtern sollte. „Heute, 80 Jahre nach Kriegsende, müssen wir uns mehr denn je gegen Geschichtsvergessenheit wehren, damit dies nie wieder geschieht“, betont Ulrich Titz, Vorsitzender des DGB Kreisverbands Düren-Jülich.
„Nach einer Fahrradwallfahrt im Südkreis und einer im Nordkreis gibt es noch sehr viele Gedenkstätten und Orte, die wir noch nicht berücksichtigt haben. Wir werden sicherlich noch weitere Veranstaltungen organisieren“, kündigt Ralf Linnartz an, weiter gegen das Vergessen aktiv erinnernd unterwegs zu sein. Weitere Infos zur Tour und zu den einzelnen Stationen gibt es auf Nachfrage bei Jochen Ostländer aus dem Büro der Regionen Düren und Eifel (E-Mail: jochen.ostlaender@bistum-aachen.de).