Ort der zweiten Chancen

Die Bischöfliche Marienschule Aachen setzt sich seit 125 Jahren für Jugendliche mit Förderbedarf ein

Jeder macht mal Fehler, hat Schwächen, aber vor allem hat jeder Mensch seine  Stärken und Talente. Das vermittelt das Team der Marienschule seinen Schülerinnen und Schülern Tag für Tag. (c) Ute Haupts
Jeder macht mal Fehler, hat Schwächen, aber vor allem hat jeder Mensch seine Stärken und Talente. Das vermittelt das Team der Marienschule seinen Schülerinnen und Schülern Tag für Tag.
Datum:
23. Okt. 2024
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 43/2024 | Andrea Thomas

Sie ist die einzige Förderschule im Kreis der Bischöflichen Schulen und wurde als private Schule für Kinder mit Unterstützungsbedarf zu einer Zeit gegründet, als das noch eher unüblich war. In diesem Jahr feiert die Bischöfliche Marienschule mit dem Förderschwerpunkt emotionale und soziale Entwicklung in Aachen ihr 125-jähriges Bestehen. Ein Blick hinter die Schulmauern.

"Lasst uns weiter Brücken bauen, neue Wege eröffnen und unseren Schülerinnen und Schülern das Zutrauen geben, damit sie selber Brückenbauer werden, " sagte Carsten Gier bei der Feier zum 125. Jubiläum der Marienschule.

Wenn man nicht weiß, dass hier eine Schule ist, fällt einem das Gebäude mit der schlichten Fassade und dem ebenso dezenten Schriftzug zunächst einmal gar nicht als solche auf. Im Inneren ist das schon anders, hier herrscht der typische Trubel einer Schule – besonders in den Pausen. Eine „typische“ Schule ist die Marienschule dennoch nicht. Sie hat aktuell 65 Schülerinnen und Schüler zwischen zehn und siebzehn Jahren, die aus der gesamten Städteregion Aachen kommen, von denen aber nur 25 im Stammhaus unterrichtet werden. Die anderen besuchen eines der verschiedenen Kooperationsprojekte der Schule.

Dazu gehört: das Projekt „Motivia“ in Zusammenarbeit mit InVia Aachen, das sich an Jugendliche richtet, die aus verschiedenen Gründen nicht mehr in Schule ankommen oder sich innerlich davon verabschiedet haben. Die Jugendwerkstatt „Amotima“ in Trägerschaft des Zentrums für Kinder-, Jugend- und Familienhilfe Maria im Tann fungiert als Lern- und Arbeitsort mit werkspädagogischen Angeboten. Das pädagogische Team der Marienschule übernimmt den Schulunterricht (Deutsch, Mathematik, Englisch und Gesellschaftslehre).

Im Stammhaus werden zwei reguläre jahrgangsübergreifende Klassen unterrichtet sowie eine Orientierungsklasse in Zusammenarbeit mit dem Jugendhilfeträger „dock7“, die Kinder und Jugendliche nach einer längeren Phase des Schulabsentismus wieder an das System Schule heranführt. Und dann gibt es noch das Projekt „Schule in der Ferne“. Darüber werden Jugendliche schulisch betreut, die im Rahmen einer Jugendhilfemaßnahme im Ausland leben und den Anschluss an das deutsche Schulsystem nicht verlieren und einen deutschen Schulabschluss machen wollen.

Was die Schule ausmacht, fasst Carsten Gier, Leiter der Abteilung Schule im Bischöflichen Generalvikariat, in seiner Rede zum Jubiläum so zusammen: „Die pädagogische Grundidee der Marienschule, ein Ort zu sein, an dem junge Menschen ohne Wenn und Aber als Mensch angenommen werden, hat sich über die Jahre nicht verändert.“ Schulleiterin Daniela Lang nennt das die besondere Willkommenskultur der Schule: Alle Kinder und Jugendlichen sollen sich angenommen fühlen und die Schule als „sicheren Ort“ empfinden. Das greift auch das Leitbild „Keiner fällt durchs Netz“ auf. An der Marienschule bekommen alle eine zweite Chance und, wenn es nötig ist, auch noch weitere. Dazu zählt auch eine besondere Fehlerkultur: „Jeder macht Fehler. Es kommt zu Konflikten oder Streit. Wichtig ist Wiedergutmachung, Dinge wieder in Ordnung zu bringen“, sagt Daniela Lang. 

Jeder Tag ist eine neuer Tag

Neben gemeinsamem Lernen in den jahrgangsübergreifenden Klassen stehen vor allem individuelles Lernen und Fördern im Vordergrund. (c) Ute Haupts
Neben gemeinsamem Lernen in den jahrgangsübergreifenden Klassen stehen vor allem individuelles Lernen und Fördern im Vordergrund.

Sie und ihr Team (zehn Sonderpädagogen und -pädagoginnen, eine Lehramtsanwärterin, zwei junge Erwachsene im freiwilligen sozialen Jahr, eine Schulsozialarbeiterin und eine Schulseelsorgerin) betrachten sich als „Lebensbegleiter“ der jungen Menschen und sind dankbar, wenn die das zulassen. „Unsere Schüler und Schülerinnen haben in ihrem Leben schon öfter erlebt, dass Konflikte eine Beziehung beenden. Bei uns nicht, wir starten mit ihnen wieder von vorne. Jeder Tag ist ein neuer Tag.“

Sicher sei das mitunter anstrengend, weil die Jugendlichen immer wieder Grenzen austesteten und wieweit sie darüber hinausgehen können. Was jedoch wettgemacht wird durch kleine und große Erfolgserlebnisse im Alltag und dem, was das Team zurückbekommt, wenn die Jugendlichen sich ernstgenommen fühlen. Hier sind sie nicht das „Problem“, sondern junge Menschen mit Schwächen, aber vor allem auch mit Stärken.

Schon immer war die Schule konfessionsübergreifend, die aktuellen Kinder und Jugendlichen gehören unterschiedlichen Religionen an oder kommen aus einem nicht-religiösen Elternhaus. Aber sie war auch von Anfang an eine Schule in katholischer Trägerschaft, in der ein christliches Menschenbild gelebt wird. „Es ist wichtig, dass wir als Schule auch diakonisch unterwegs sind“, sagt Daniela Lang. Unter den bischöflichen Schulen im Bistum Aachen seien sie die einzige Förderschule. Und auch in anderen Bistümern ist diese Schulform eher selten.

Unterrichtet wird nach den Lehrplänen für Haupt- und Realschule, deren Abschlüsse die Schule ermöglicht. Dabei steht neben dem gemeinsamen das individuelle Lernen im Vordergrund sowie die Erziehungsarbeit. „Es gibt keine Routine. Jeder Tag bietet Herausforderungen und Besonderheiten: Welcher Weg kann eingeschlagen werden, welche Möglichkeiten haben wir? Manchmal stehen nicht das Lernen, sondern Herausforderungen im privaten Umfeld im Vordergrund“, beschreibt Lehrerin Lisa Dortants. „Wir bauen ein Konstrukt, um jeden gut fördern zu können“, ergänzt Daniela Lang.

Einen wichtigen Stellenwert hat dabei die Elternarbeit. Sie verstünden sich als Erziehungspartner, der Kontakt sei eng, die Kommunikation auf Augenhöhe und sehr wertschätzend, aber auch klar und deutlich. „Wir tauschen uns regelmäßig aus, und zwar nicht nur bei Konflikten, sondern auch über Positives und Alltägliches“, sagt Lisa Dortants. 

Chronik

Hinter dieser schlichten Fassade verbirgt sich ein ganz besonderer Ort des Miteinanders und des Lernens für das Leben. (c) Andrea Thomas
Hinter dieser schlichten Fassade verbirgt sich ein ganz besonderer Ort des Miteinanders und des Lernens für das Leben.

1898 gründen Sophie von Steinle und Helene d’Alquenvon vom Orden der „Töchter vom Herzen Mariä“ eine Privatschule für „schwach begabte und der Nachhilfe bedürftige Kinder“ (so die damalige Formulierung).
1899 nimmt die „Marienschule“ mit drei Schülerinnen ihren Betrieb auf. 1904 besuchen bereits 22 Kinder in zwei Klassen die Schule. Nach Räumen in der Ottostraße folgt noch im ersten Jahr der Umzug in die Harscampstraße. Seit 1910 ist die Schule an ihrem jetzigen Standort in der Harscampst. 45 untergebracht.
Im Zweiten Weltkrieg bleibt die Marienschule zunächst in Betrieb. 1943 wird das Gebäude schwer zerstört, was zum Anlass genommen wird, den Unterricht einzustellen. 1946 nimmt die Schule ihren Betrieb in der Turnhalle wieder auf, ab 1950 dann im Altbau. 1962 entsteht der Neubau zur Straße hin.
Seit 1981 trägt die Marienschule den Zusatz „Private Schule für Erziehungshilfe“. Den Schwerpunkt hat sie bis heute. 1986 scheidet die letzte Ordensfrau aus der Schulleitung aus. 1991 erfolgt der Trägerwechsel zum Bistum Aachen und zur „Bischöflichen Marienschule“. 1997 wird Georg Schepping Schulleiter. Auf ihn folgt 2021 Daniela Lang.