Es muss schon etwas sehr Schwerwiegendes passieren, damit Udo Kinkel aus Langerwehe nicht auf der Arbeit erscheint. „Ich war einmal einen ganzen Tag zu Hause“ berichtet er. Langweilig sei das gewesen. Sehr langweilig. Sofort hat er die Kolleginnen und Kollegen vermisst, die gemeinsame Zeit, den ein oder anderen Plausch – und natürlich auch die Arbeit selbst. Udo Kinkel ist 58 Jahre alt, er hat Trisomie 21 (Down-Syndrom). Seit 30 Jahren ist er Mitarbeiter der gemeinnützigen Dürener Rurtalwerkstätten.
Er war schon in der Holzverarbeitung eingesetzt und arbeitet mittlerweile seit vielen Jahren in der Montage und Verpackung. Zu seiner Gruppe gehören weitere elf Menschen mit Handicap, die gemeinsam als Team arbeiten. Seine Kollegin aus Jülich zählt die einzelnen Stücke ab, Udo Kinkel befüllt ordentlich die Tüten. Die beiden waren schon zur Schulzeit in einer Klasse. „Ich freue mich immer, morgens die Kollegen zu sehen“, sagt Udo Kinkel. Er ist glücklich mit seiner Arbeit und übernimmt gerne Aufgaben. „Ich gehe nicht in Rente, das kommt nie vor“, sagt er mit einem strahlenden Lächeln.
Arbeit ist ein wichtiger Bestandteil für ein glückliches und erfülltes Leben. Und sie ermöglicht Menschen mit Teilhabebedarf, also einer psychischen oder körperlichen Behinderung, Teilhabe am Arbeitsplatz. „In den acht Betriebsstätten der Rurtalwerkstätten (RTW) leben jeden Tag rund 900 Menschen mit Teilhabebedarf und 300 Angestellte Miteinander, Vielfalt und Gemeinsamkeit – mit allen Unterschieden, die sie ausmachen“, sagt Geschäftsführer Normen Rothe. Inklusion ist in den Rurtalwerkstätten bereits seit 60 Jahren ein zentrales Thema, obwohl es diesen Begriff damals noch gar nicht gab. „Wir möchten, dass die Menschen eine Tätigkeit ausüben, die sie erfüllt und fordert, aber nicht überfordert. Hier stehen die Stärken jedes einzelnen Mitarbeiters im Mittelpunkt“, sagt Normen Rothe.
Die Menschen mit einer geistigen, psychischen oder komplexen Behinderung arbeiten in den Bereichen Verpackung und Montage, Metallverarbeitung, Garten- und Landschaftspflege, Hauswirtschaft und Küche, Holzverarbeitung, Wäscherei und Heißmangel, Industriemontage und Konfektionierung, Lagerwirtschaft, Elektromontage, Druckerei und Papierverarbeitung sowie Fahrzeugpflege. Die Arbeiten reichen dabei von der Konfektionierung von Schrauben und Beschlägen für die Möbelindustrie bis zu komplexen und maßgefertigten Werkstücken aus der Schreinerei, beispielsweise Küchen und Wickelkommoden mit ausziehbaren Tritten für Kindertagesstätten.
Geschäftsführer Normen Rothe, der vor einem Jahr bei den Rurtalwerkstätten angefangen hat, ist stets auf der Suche nach neuen Kooperationspartnern und Möglichkeiten, beispielsweise in der Abfüllung und Verpackung von Lebensmitteln. „Wir haben einen professionellen Maschinenpark und können europaweit Unternehmen in der Produktion unterstützen“, stellt Normen Rothe klar, dass die Rurtalwerkstätten gut aufgestellt sind und ein breites Dienstleistungsportfolio meistern können. Gesellschafter der Rurtalwerkstätten sind der Verein Lebenshilfe Kreisvereinigung Düren und die Stiftung Lebenshilfe.
„Ich komme selbst aus einer anderen Welt“, sagt Normen Rothe, der viele Jahre Manager im Banken- und Dienstleistungssektor tätig war. Es galt, Zahlen zu erreichen, Gewinne zu maximieren, immer höher, immer schneller. „Wo bleibt da die Menschlichkeit?“, fragte sich Rothe, der den Beschluss fasste, aus diesem Hamsterrad auszusteigen. „Als ich diese Entscheidung traf, ahnte ich noch nicht, wie sehr diese Entscheidung meine Einstellung zum Leben ändern würde“, berichtet der 52-Jährige: „Jetzt verstehe ich Begriffe wie Toleranz, gemeinsam miteinander, gegen Ausgrenzung, Orte der Begegnung sowie Wertschätzung und Dankbarkeit.“
Die Aufnahme einer Tätigkeit, die eine „tiefere Erfüllung und Sinnhaftigkeit“ bringt, habe den Geschäftsführer nicht nur beruflich, sondern auch persönlich weitergebracht. „Selbstverständlich müssen wir wirtschaftlich arbeiten, um am Markt bestehen zu können. Aber hier geht es in erster Linie um Menschen, ihre Geschichten und Bedürfnisse“, sagt er. Die Rurtalwerkstätten seien ein Dienstleister, der auch Teilhabe schafft, ein Wirtschaftsunternehmen, das zugleich ein Sozialunternehmen ist.
„Wir können beim Preis nicht mit Amazon konkurrieren“, sagt Normen Rothe. Aber dies sei weder das Ziel noch die Aufgabe der Rurtalwerkstätten. Dank vieler – zum Teil äußerst langjähriger – Kunden nicht nur aus der Industrie, die bereit sind, die besonderen Rahmenbedingungen zu ermöglichen und mitzutragen, gelinge es in den Betriebsstätten, integrierte Arbeitsplätze und einen geschützten Raum für Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Teilhabebedarf zu bieten. Jede und jeder erhalte einen auf die individuellen Bedürfnisse angepassten Arbeitsplatz und bei Bedarf eine besondere Betreuung und Anleitung. So entsteht wie im Fall von Udo Kinkel und seiner Kollegin eine eingespielte Zusammenarbeit, bei der jeder einzelne mit seinen Stärken punkten kann und vermeintliche Schwächen in den Hintergrund treten.
Die Tätigkeit in den Werkstätten ermögliche jeden Tag ungezählte Begegnungen mit vielen Menschen – mit und ohne Handicap. Seit einem Jahr ist Normen Rothe der Geschäftsführer. Schnell hat er gelernt: „Unsere Mitarbeitenden haben eine einzigartige Sicht auf die Welt. Jeder akzeptiert den anderen so, wie er ist. Es gibt keinen Druck, immer perfekt sein zu müssen, hier spielt niemand Theater, es interessiert niemanden, wie teuer der Anzug war, welches Auto man fährt, um möglichst erfolgreich auszusehen. Diese Offenheit, Ehrlichkeit und Begeisterungsfähigkeit der Menschen ist ansteckend“, sagt Normen Rothe. Er habe zu Beginn viel gelernt, lernen müssen. Und auch das eigene Leben und Persönlichkeitsprofil, die eigenen Wertevorstellungen standen auf dem Prüfstand. „Unsere Leute lehren mich jeden Tag, die Dinge mit mehr Geduld, Gelassenheit und Freude anzugehen. Ich hätte nie gedacht, dass ich so viel von Menschen mit Behinderung lernen kann. In allen Begegnungen passiert das hier jeden Tag.“
Ein konkretes Beispiel ist die Zusammenarbeit mit einem jungen Mann, der zunächst große Schwierigkeiten hatte, sich in den Werkstätten einzubinden und seine Rolle zu finden. „Durch intensive und wiederholte Gespräche und ganz viel Ausprobieren verschiedener Aufgaben haben wir etwas gefunden, er blüht inzwischen in seiner Arbeit auf. Das hätte es früher nicht gegeben. In der Finanzwelt hätte sich niemand die Zeit genommen. Solche Momente sind unbezahlbar.
Sie erinnern mich daran, warum ich diese Arbeit mache“, erklärt der Geschäftsführer. Ihm ist es daher besonders wichtig, neben den internen Begegnungen in den Werkstätten auch Brücken in die Welt „draußen“ zu schlagen, durch Kooperationen mit Unternehmen Barrieren abzubauen und Begegnungen auf Augenhöhe zu schaffen. Rothe: „Es ist sehr beeindruckend, zu sehen, wie schnell sich Vorurteile auflösen, wenn Menschen miteinander ins Gespräch kommen. Gerade bei Gesprächen von unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Externen.“
Begegnungen sind heute für den Geschäftsführer mehr als nur Termine, mehr als nur beruflicher Alltag. „Sie sind eine Quelle der Inspiration, ein Spiegel der eigenen Werte und eine stetige Erinnerung daran, wie wichtig es ist, einander mit Respekt und Offenheit zu begegnen“, sagt Normen Rothe.
Der Grundstein für die Rurtalwerkstätten, die über acht Standorte im Kreis Düren verfügen, wurde vor sechs Jahrzehnten vom ganz jungen Verein Lebenshilfe im Kreis Düren gelegt, als engagierte Eltern eine Anlernwerkstatt für ihre Kinder mit Handicap gegründet haben. Daraus entwickelten sich ab 1964 Schritt für Schritt die heutigen Rurtalwerkstätten, die mittlerweile zu einem der größten Arbeitgeber im Kreis Düren zählen. Ziel ist es, Menschen mit Teilhabebedarf individuell zu fördern und ihnen so eine Teilhabe an Arbeitsprozessen bis hin zu einer Vermittlung in den allgemeinen Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Die Betriebsstätten der Rurtalwerkstätten sind seit Jahrzehnten auch ein Ort von sozialem Austausch und sozialer Begegnung. Hier können Menschen lernen, selbstständiger zu werden und Teil eines Teams zu sein, ohne die eigene Individualität aufzugeben. Möglich ist dies auch deswegen, weil es seit sechs Jahrzehnten Männer und Frauen mit viel Empathie gibt, die diesen Weg gemeinsam mit den Menschen mit einer geistigen Behinderung oder psychischen Erkrankung gehen.