Orientierung geben

Mit Blick auf die USA scheint sich das Recht des Stärkeren zunehmend durchzusetzen. Auch andere Demokratien sind in Gefahr. Wie vermittelt man vor diesem Hintergrund Kindern und Jugendliche christliche Werte wie Nächstenliebe? Welche Probleme gibt es dabei? Vier Lehrerinnen berichten.

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Datum:
4. Feb. 2025
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 06/2025 | Garnet Manecke

Konservative Werte gewinnen wieder an Bedeutung

"Die Rückbesinnung auf die Menschenwürde ist essenziell. Damit steht und fällt, ob man miteinander sprechen kann."

Nadine Rosen-Küppers (41), Religion und Deutsch, unterrichtet seit 2011 an der Bischöflichen Marienschule in Mönchengladbach. 2014 ging sie für sechs Jahre in Elternzeit. Als sie 2020 wiederkam, traf sie auf eine ganz neue Schülergeneration.

Weil sie eine Familie gegründet hat, ging Nadine Rosen-Küppers 2014 für sechs Jahre in Elternzeit. 2020 kehrte sie in der Pandemie zurück. Nicht nur Fernunterricht und Masken hatten den Schulalltag verändert, sondern auch die Schülerinnen und Schüler selbst waren anders. „Ich habe die Schüler nicht mehr wiedererkannt“, sagt die 41-Jährige. „Die grundlegende Haltung zum Religionsunterricht hatte sich verändert.“

Während vor ihrer Elternzeit die Jugendlichen in der Oberstufe kritisch gegenüber autoritären Systemen gewesen seien und alles hinterfragt hätten, sei sie bei ihrer Rückkehr auf eine Oberstufe getroffen, die autoritäre Systeme deutlich positiver bewertete, sagt Rosen-Küppers. Beispiel Lebensschutz: „Für diese Generation ist es ganz klar, dass sie Sex erst in der Ehe haben wollen und das Leben mit der Zeugung beginnt“, berichtet die Pädagogin. Durch die Pandemie habe es gesellschaftliche Umbrüche gegeben, die auf die Jugendlichen wirkten. „Sie wachsen einfach geforderter auf, als andere Generationen vor ihnen“, sagt Rosen-Küppers. „Sie wollen klare Linien.“

In einer Welt der wachsenden Informationsflut und Fake-News, die die Jugendlichen ständig vor die Frage stellen, was vertrauenswürdig ist und was nicht, tendieren sie offenbar eher zu konservativen Werten. Dabei geht es nicht nur christlichen Schülerinnen und Schülern so. Auch muslimische Jugendliche treten mit ihren Überzeugungen klar und selbstbewusst in den Dialog. So entdecken die Kinder und Jugendlichen neben Unterschieden auch viele Gemeinsamkeiten.

„Unsere Aufgabe als Schule ist es, die Kinder diskussionsfähig zu machen“, sagt Rosen-Küppers. „Die Rückbesinnung auf die Menschenwürde ist dafür essenziell. Damit steht und fällt, ob man miteinander sprechen kann.“ Gegenseitiger Respekt, Aufrichtigkeit und auch, als Lehrerin selbst Zeugin des eigenen Glaubens vor der Schülerschaft zu sein, sind wichtige Faktoren dafür. „Am Ende wollen sie alle Frieden“, sagt Rosen-Küppers. „Solange die Menschenwürde die Basis ist, können wir uns einigen.“

Der Fokus auf christliche Werte sei ein Spezifikum, das für die Kinder und Jugendlichen immer attraktiver werde, fällt der Lehrerin auf. In zahlreiche sozialen Aktivitäten werden die Mädchen und Jungen früh eingebunden. Dabei sind die Älteren Vorbild für die Jüngeren. Das alles zeigt: „Wir haben dieser Welt etwas zu bieten.“

Offen in den Diskurs gehen und mit Schülern in Kontakt sein

"Als Lehrerin habe ich ihnen immer etwas voraus. Aber als Mensch sind wir gleichwertig und auf Augenhöhe."

Leonie Walther (28) kam im Mai 2022 als Referendarin an die Bischöfliche Marienschule in Mönchengladbach. Vor einem Jahr hat sie ihr Referendariat abgeschlossen. Walther unterrichtet neben Religion auch das Fach Deutsch.

Was ihr an der Bischöflichen Marienschule direkt aufgefallen ist: das gute Miteinander. „Selbst die Älteren kennen die Jüngeren“, sagt Leonie Walther. Sie selbst hat eine staatliche Schule besucht, da sei das Verhältnis unter den Schülerinnen und Schülern ganz anders gewesen. „Die Großen waren die Bösen“, fasst sie das kurz zusammen.

Aber noch einen anderen Unterschied zu ihrer eigenen Schulzeit fällt der 28-Jährigen auf. „In meiner Generation lehnten wir uns gegen etwas auf“, sagt sie. Zum Beispiel gegen die Eltern und die Lehrer, also die Autoritäten, gegen die man sich als Jugendliche abgrenzen wollte. „Heute beobachte ich in der Oberstufe, dass sie nicht mehr anecken wollen“, sagt die Pädagogin. Einen Grund dafür sieht sie in den Social-Media-Kanälen. Wer sich hier zeigt, liefert sich immer gleichzeitig auch der Kritik anderer aus. „Wenn ich da anecke, dann kann es zu einem Shitstorm kommen“, sagt Walther. Für Jugendliche, die ihre Rolle in der Welt noch finden müssen, kann das ein großes Problem sein.

Wenn es um die Vermittlung eines christlichen Menschenbildes geht, sieht sich Walther aber in einer vorteilhaften Position. „Wir leben hier an der Schule im gelobten Land“, sagt sie mit Blick auf den katholischen Träger, das Bistum Aachen. „Gott hat hier einen ganz anderen Stellenwert als zum Beispiel an staatlichen Schulen.“ Der Gottesdienst zum Beispiel gehört an der Bischöflichen Marienschule zum Schulalltag dazu.

Aber ein Selbstläufer ist die Vermittlung von christlichen Werten und einem guten Umgang miteinander auch hier nicht. „Wichtig ist, zu zeigen, dass man selbst offen in den Diskurs geht und immer den Kontakt zu den Schülern hat“, findet Walther. Dann können auch konträre Positionen nebeneinander bestehen, ohne dass sich die Parteien unversöhnlich gegenüber stehen.

Das bezieht Walther nicht nur auf die Schülerinnen und Schüler untereinander, sondern auch im Verhältnis zwischen Lehrpersonen und Schülerschaft. Auch als Lehrerin müsse sie den Schülern als Mensch auf Augenhöhe begegnen. „Als Lehrerin habe ich ihnen etwas voraus und stehe auf einer anderen Stufe“, sagt sie. „Aber als Mensch sind wir gleichwertig.“

Die Gleichwertigkeit jedes Menschen, unabhängig von seiner Hautfarbe, seiner Nationalität, seines Glaubens oder seiner Sexualität den Mädchen und Jungen beizubringen, sei ein ständiger Prozess. Ein wichtiger Faktor für den Erfolg sei es, das selbst vorzuleben. Auch, wenn das bedeutet, dass Lehrer heute immer wieder vor neue Aufgaben gestellt werden. Das betrifft nicht nur die Kinder, sondern auch deren Eltern und geht manchmal über das Schulische hinaus. „Aber ich helfe gern“, sagt Walther. Denn am Ende hilft es vor allem den Kindern.

Auch den Schülern muss mit Respekt begegnet werden

"Von Dingen wie Social Media habe ich keine Ahnung. Dann frage ich meine Schüler, wie das geht."

Heike Hermbecker (51) ist seit über 25 Jahren Lehrerin am Bischöflichen Gymnasium Sankt Ursula in Geilenkirchen. In dieser Zeit sind die Erwartungen an Schule immer weiter gestiegen. Neben Religion unterrichtet die Lehrerin auch Französisch.

Wie vermittelt man in einer Welt, die immer unübersichtlicher wird und in der offenbar zunehmend das Recht des Stärkeren gilt, ein von Nächstenliebe geprägtes, Menschenbild? Heike Hermbecker sieht da zwei wichtige Faktoren. Zum einen sind es die Ankerpunkte im Schulleben, mit denen den Schülerinnen und Schülern die Werte vermittelt werden: der Religionsunterricht, der Schulgottesdienst und das Morgengebet. Dazu gehören aber auch Schulprojekte wie die Unterstützung einer Schule auf Madagaskar, mit denen sich die Kinder und Jugendlichen regelmäßig aktiv auseinandersetzen.

„Das andere ist die Art und Weise des Umgangs miteinander, mit dem das vermittelt wird“, sagt Heike Hermbecker. Das gelte sowohl im respektvollen Lehrer-Schüler-Umgang als auch im Kontakt mit den Eltern. So einfach, wie sich das anhört, aber ist es nicht.
„Das Miteinander im Alltag hat sich durch die stärker werdende Individualisierung sehr verändert“, beobachtet die Pädagogin. Der Fokus gehe mehr auf das eigene Ich. Wo er früher noch mehr auf der Gruppe und der Summe der Perspektiven lag, werde heute eher gefragt: „Was bringt mir das?“ „Aber das hat nichts mit Schule zu tun, sondern ist eine gesellschaftliche Entwicklung“, sagt Hermbecker.

Eine Entwicklung, die aber Einfluss auf das Schulleben hat. Ein Blick auf die Kommentare in verschiedenen Social-Media-Kanälen offenbart, dass eine fruchtbare Diskussion vielfach gar nicht mehr möglich scheint. Jeder beharrt auf seiner Meinung, eine Annäherung gibt es oft nicht. Im Gegenteil: Immer wieder eskalieren solche Auseinandersetzungen im Internet.
Die Auswirkungen spürt auch Hermbecker im Umgang mit den Mädchen und Jungen. „Viele kriegen einen Perspektivwechsel nicht mehr hin“, sagt sie. „Ich bin noch groß geworden mit den Worten ,Du bist nicht der Maßstab aller Dinge‘. Das haben viele Schüler nicht mehr.“

Auch die Sicht auf die Schule habe sich verändert. „Schule nimmt natürlich gesellschaftliche Aufgaben wahr“, sagt Hermbecker. Aber wie weit sollte das gehen? Zunehmend werde Schule als Dienstleister für viele weitere Aufgaben gesehen, die früher in den Familien lagen.

Bei allen Veränderungen, findet die 51-Jährige, dass das Miteinander an ihrer Schule generell gut funktioniert. „Ich war mal an einer anderen Schule als Kollegenvertretung. Da haben sich die Lehrer untereinander nicht gegrüßt“, berichtet sie. „Die Schüler haben sich dann auch nicht gegrüßt.“ Christliche Werte vorzuleben, sei ein wichtiger Faktor. Aber Hermbecker  hat noch einen Punkt. „Von vielen Dingen wie Social Media habe ich keine Ahnung“, sagt sie. „Dann frage ich meine Schüler, wie das geht.“ Die Kompetenz der Jüngeren anzuerkennen: Auch das ist Respekt.

Auch mal die Perspektive der Jugendlichen einnehmen

"Viele Schüler haben die Mentalität, dass es immer die eine, richtige Antwort geben muss. "

Marie-Jeanne Eßer (29), unterrichtet die Fächer Religion und Französisch am Bischöflichen Gymnasium Sankt Ursula in Geilenkirchen. Sie hat dort im November 2019 ihr Referendariat begonnen und im Frühjahr 2021 ihre Ausbildung abgeschlossen.

Was ich so über die Jahrgangsstufen hinweg wahrnehme: Kompromissfähigkeit ist ein Riesen-Thema“, sagt Marie-Jeanne Eßer. „Viele haben die Mentalität, dass es immer die eine, richtige Antwort oder die eine, finale Lösung geben muss. Die haben ein richtiges Problem mit Ambiguitäten.“ Das beobachte sie schon in jüngeren Klassen.
Oft haben die Kinder Probleme, zu verstehen, dass jedes Kind unterschiedliche Bedürfnisse hat. Auch die Jugendlichen in den höheren Klassen, tun sich schwer damit, bei unterschiedlichen Meinungen, Kompromisse einzugehen, fällt Eßer auf. „In meiner Ausbildung wurde großer Wert darauf gelegt, diese Kompetenzen zu vermitteln und zu fördern.“

Für die Pädagogin ist das ein ständiger Balance-Akt. „Es ist hier nicht so, dass man um Respekt kämpfen muss“, sagt sie über ihren Alltag als Lehrerin am Bischöflichen Gymnasium Sankt Ursula. Aber er ist bei Kindern und Jugendlichen, die in ihrer Entwicklung auch immer wieder ihre Grenzen austesten, eben auch nicht selbstverständlich. „Wichtig ist mir, den Schülern durch mein Handeln vorzuleben und zu kommunizieren, warum es bestimmte Regeln gibt“, sagt die 29-Jährige. „Die Schüler müssen auch an Entscheidungen beteiligt werden.“

Die Kinder und Jugendlichen ernst zu nehmen, ist dafür wesentlich. „Auch von unserer Seite braucht es immer wieder den Perspektivwechsel“, sagt Eßer. „Zum Beispiel, wie es sich anfühlt, einen Vokabeltest zurückzubekommen. Es ist wichtig, immer zu wissen, dass ich die erwachsene Person bin, auch wenn ich mich gerade durch das Verhalten des Schülers angegriffen fühle.“

Als Vertrauenslehrerin hat Eßer oft auch Einblicke in private Sorgen der Kinder und Jugendlichen. „Man erlebt da viel, was normal von Schulsozialarbeitern übernommen wird“, sagt sie. Dass sich die Mädchen und Jungen ihr gegenüber öffnen, ist ein großer Vertrauensbeweis.

Auf der anderen Seite kommt sie so mit vielen Themen in Berührung, die eigentlich nicht ihre originäre Aufgabe sind. „Bestimmte Bereiche wie Seelsorge oder Berufsberatung übernehmen wir, für die wir gar nicht ausgebildet sind“, sagt die Pädagogin. „Aber das ist kein spezielles Problem an dieser Schule, sondern ein Problem des gesamten Schulsystems.“

Widersprüche gilt es auch in anderen Bereichen auszuhalten und dann Haltung zu zeigen. Zum Beispiel bei der Rolle von Frauen in einer männerdominierten Kirche. Wie erklärt sie Schülerinnen, dass sie sich als selbstständige Frau in einer Kirche engagiert und bleibt, in der Frauen in der zweiten Reihe stehen? „Wichtig finde ich, eine Haltung zu haben und sie zu vertreten“, sagt Eßer. „Wenn alle die Kirche verlassen, wird es keine Veränderungen geben. Die können wir nur von innen anstreben. Von außen werden wir nichts erreichen.“