Wie wurde im Bistum Aachen mit sexualisierter Gewalt umgegangen, die Kleriker Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen angetan haben? Lange angekündigt, liegt nun seit dem 12. November ein Gutachten vor, das dazu Auskunft gibt. Das Interesse war groß. Die Präsentation fand per öffentlicher Videokonferenz statt. Im Anschluss nahmen als Auftraggeber Bischof Helmut Dieser und Generalvikar Andreas Frick die Dokumente in gedruckter Form entgegen. Dann stellte die Rechtsanwaltskanzlei das Gutachten als Datei für jeden einsehbar ins Internet.
Zwei Dokumente der Zeitgeschichte. Das erste ist ein unabhängig erstelltes Gutachten, 458 Seiten stark. Es trägt aus vielen Quellen Erkenntnisse zusammen und setzt diese zueinander ins Verhältnis. Ab Seite 147 geht es ans Eingemachte, es wird konkret. Anonymisiert schildern die Gutachter Beispiele für einen defizitären Umgang des Bistums Aachen mit sexualisierter Gewalt durch Kleriker. Die Anwälte beschreiben präzise, wo die Mängel lagen.
Ab Seite 264 folgt der entscheidende Schritt. Die Gutachter bewerten die persönlichen Verantwortlichkeiten der Bischöfe und Generalvikare, die seit 1965 im Bistum ihren Dienst taten. Und so viel vorweg: Als Verantwortliche, welche nicht angemessen mit sexualisierter Gewalt in der Diözese umgingen, stehen dort im Mittelpunkt: die Bischöfe Johannes Pohlschneider (1954 bis 1974), Klaus Hemmerle (1975 bis 1994) und Heinrich Mussinghoff (1995 bis 2015) sowie die Generalvikare Karlheinz Collas (1978 bis 1997) und Manfred von Holtum (1997 bis 2015).
Die Gutachter schließen nach dieser Analyse mit einem Strauß von Empfehlungen, zusammengefasst auf rund 30 Seiten. Sie nehmen dabei Bezug auf ihre Ergebnisse und Wertungen und auf erkannte systemische Ursachen. Fünf Anhänge runden das Werk ab. Darunter befinden sich Schreiben von Rechtsanwälten, die für die beiden noch lebenden Verantwortlichen aktiv wurden – für Heinrich Mussinghoff (80 Jahre) und Manfred von Holtum (76 Jahre).
Das zweite Dokument der Zeitgeschichte ist die fast zweistündige Pressekonferenz, in der die Münchener Kanzlei Westphal Spilker Wastl das Gutachten präsentierte und sich Fragen stellte. Ein Videomitschnitt dieses Ereignisses ist im Internet abrufbar. Sich das anzuschauen, lohnt allein wegen einiger Zwischentöne seitens der Anwälte. Bei aller sachlichen Präzision und Differenzierung machten sie unmissverständlich deutlich, dass sie an der Seite der Opfer stehen.
Der Münchner Rechtsanwalt Ulrich Wastl stellte in der Präsentation gleich mehrfach klar, worum es nicht geht: einzelne Personen an den Pranger zu stellen oder zu stigmatisieren. Vielmehr hatte die Kanzlei vom Bistum Aachen den Auftrag erhalten, aus erkannt falschem Umgang mit dem Thema der sexualisierten Gewalt durch Kleriker zu lernen, persönliche Verantwortlichkeiten und systemische Ursachen zu benennen sowie daraus Empfehlungen für die Zukunft zu entwickeln.
Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich auf die Jahre 1965 bis 2019. Die Gutachter befassten sich mit dem Handeln von 81 Klerikern, konkret 79 Priestern und zwei Diakonen. Durch diese geschädigt wurden mindestens 175 Menschen, vorrangig Minderjährige, meist Jungen, meist im Alter zwischen acht und 14 Jahren, sowie erwachsene Schutzbefohlene. Die Dunkelziffer könnte erheblich sein. Die meisten Kleriker begingen die ersten Taten im mittleren Alter, wie Rechtsanwalt Martin Pusch ausführte.
Gestützt auf 30 000 Seiten aus Personalakten, Protokollen, Dokumenten aus sogenannten Giftschränken sowie Interviews mit 35 Zeitzeugen und Verantwortlichen analysierte die Kanzlei, wie die bistümlichen Verantwortlichen mit Klerikern umgingen, die beschuldigt, überführt, verurteilt worden waren. Wie sahen die Konsequenzen in diesen Fällen aus? Durften die Verdächtigten oder überführten Täter weiterarbeiten und wenn ja, warum und wo? Wie sah es mit ihrer weiteren Laufbahn als Kleriker aus, ihrem Status, ihren Bezügen?
Ein weiterer, ebenfalls wichtiger Punkt: Wie gingen die Verantwortlichen mit Beschuldigungen um? Wie sprachen sie mit möglichen und tatsächlichen Opfern sexualisierter Gewalt? Welche Zuwendung und Hilfe erfuhren diese? Wie sprach man mit den Angehörigen? Wieviel Transparenz ließen die Verantwortlichen walten innerhalb der Kirche, aber auch gegenüber der Öffentlichkeit?
Die Lektüre ist schwere Kost. Das gilt einmal sprachlich. Im Bemühen um Rechtssicherheit haben die Gutachter juristisch ausgefeilt formuliert und auch die Grundlagen immer wieder in Stellung gebracht. Das macht das Lesen mühsam.
Vor allem aber ist es inhaltlich schwere Kost. Es bricht einem das Herz, ein weiteres Mal der Tragödie und Tragweite der sexualisierten Gewalt seitens Kleriker im Bistum Aachen ins Gesicht zu sehen. Es löst ein Wechselbad der Gefühle aus, mitzuverfolgen, wie selbst überführte und verurteilte Täter in Amt und Würden blieben, versetzt oder geehrt wurden. Es ist beklemmend, nachzuvollziehen, wie nach Ansicht der Gutachter getäuscht, getrickst, geleugnet wurde, um die Institution zu schützen, und dabei die Belange von Opfern und ihrer Angehörigen außer Acht gelassen wurden.
Kurzum: Dieses Gutachten zu lesen, ist eine Zumutung – und zwar eine, die unausweichlich und unerlässlich ist, um geschehenes Unrecht aufzuarbeiten, Verantwortung zu übernehmen und aus allem für die Zukunft zu lernen.
Die Gutachter skizzieren folgendes Bild: Das Bistum Aachen hat in vielen Fällen sexualisierter Gewalt nicht angemessen gehandelt. Beschuldigte oder gar überführte und vorbestrafte Kleriker wurden weiter in der Seelsorge eingesetzt, teilweise ohne die neuen Einsatzstellen über die Vorgeschichte zu informieren. Die Täter wurden, wenn überhaupt, nur unzureichend sanktioniert. Lediglich zwei von 81 Priestern und Diakonen wurden wegen ihrer Taten aus dem Klerikerstand entlassen.
Die Gutachter sagen: In einigen Situationen wurde durch die genannten Versetzungen teils wissentlich das Risiko in Kauf genommen, dass weitere Minderjährige oder erwachsene Schutzbefohlene geschädigt werden könnten. Und tatsächlich führten diese Entscheidungen der Verantwortlichen in manchen Fällen dazu, dass weitere Menschen Opfer sexualisierter Gewalt wurden. Zu dieser Verantwortung hat sich bis heute kein beteiligter Verantwortlicher bekannt.
Der Blick zurück in die Zeit bis Mitte dieses Jahrzehnts zeigt: Mit Opfern und ihren Angehörigen sprachen Bischöfe und Generalvikare nicht. Wenn überhaupt, erledigten das in ihrem Auftrag Mitarbeiter. Eine Ausnahme benennen die Gutachter: Bischof Klaus Hemmerle suchte in der Schlussphase seines Lebens doch noch das Gespräch und hielt es in tiefer seelsorglicher Zuwendung mit Briefen aufrecht. Dafür erntete er intern in der Bistumsverwaltung Kritik.
Die Gutachter lassen in ihrer Bewertung keine gängigen Ausflüchte zu, die von der persönlichen Verantwortung der Bischöfe und Generalvikare ablenken. Der Verweis auf Kirchenrecht und römische Instanzen zieht bei den Anwälten ebenso wenig wie der Hinweis, dass auch das staatliche Recht erst den Blick zu den Opfern nehmen musste. Auch Aussagen, dass man immer die Vorgaben von der Deutschen Bischofskonferenz und der Gesetze erfüllt oder sogar etwas übererfüllt habe, werteten die Gutachter angesichts der festgestellten Fehlentscheidungen als wenig relevant.
Genauso wenig überzeugten die Anwälte Hinweise darauf, dass Bischöfe und Generalvikare Aufgaben an Untergebene delegiert hatten und dass die Akten zum Beispiel von Untergebenen geführt wurden. Und auch persönliche Eingeständnisse, dass man sich mit dem Thema und dem Umgang mit Opfern und Angehörigen überfordert fühlte, nehmen aus ihrer Sicht keinen Deut weg von der persönlichen Verantwortung, die jeder der genannten Bischöfe und Generalvikare trugen.
Eine entscheidende Frage führt das Ganze auf den Kern zurück: Würde man jemanden, der im Kindergarten oder in der Schule arbeitet, nach sexualisierten Gewalttaten wieder dort einsetzen? Sicher nicht. Warum also hat man einen Kleriker, der in der Seelsorge arbeitet, nach sexualisierten Gewalttaten wieder dort eingesetzt? Wo liegt der Unterschied? Warum hat man einen Unterschied gemacht?
Die Gutachter wählen eine klare Sprache: Es ist der Klerikalismus, der den Unterschied macht. Die Anwälte skizzieren das Bild der Kirche auch im Bistum Aachen als eingeschworenen Männerbund mit tiefen Loyalitäten und Verbindungen, mit einer eigenen Welt, mit eigenen Gesetzen, mangelnder Kontrolle von außen und einem hilf- und sprachlosen Umgang mit Sexualität, die einer strengen Morallehre nach außen und Maßregelung nach innen unterliegt. Frauen haben hier nichts zu sagen
Innerhalb dieser klerikalen Welt verschärft ein weiterer Punkt die Problematik, in deren Linie ein hohes Risiko für sexualisierte Gewalt entsteht. Die Anwälte benennen ein überhöhtes Priesterbild und damit eng verknüpft ein überhöhtes Kirchenbild. Im Leitbild der Heiligkeit sowohl des geweihten Mannes als auch der Institution entstehen unkontrollierte Räume für Täter. Manche Fälle zeigen, wie dieses Sakramentale ganz konkret missbraucht wurde, etwa bei Taten im Beichtstuhl.
Das Fazit der Gutachter: Das Bild der heiligen unbefleckten Kirche und der heiligen unbefleckten Priester leitete jahrzehntelang das Handeln der verantwortlichen Bischöfe und Generalvikare. Sie brachten alle Energie auf, öffentlichen Schaden von der Institution fernzuhalten. Diesem Ziel waren viele Entscheidungen im Umgang mit sexualisierter Gewalt von Klerikern untergeordnet. Die Opfer waren dabei selten im Blick, allenfalls wenn von ihnen Gefahr für das öffentliche Ansehen der Kirche ausging. Die Dinge unter der Decke zu halten, kleinzureden, zu leugnen, war gängige Praxis.
Die Anwälte hinterfragen, wie es sein kann, dass ein Täter größere Empathie zu erwarten hatte von seinem Bischof und seinem Generalvikar als die Opfer. Die Versetzungen, die großen Schaden anrichten konnten und anrichteten, waren das eine. Aber auch Würdigungen und Beförderungen, die überführten Tätern zuteil wurden, werfen einen Schatten auf die Verantwortlichen. Aus Sicht der Opfer und ihrer Angehörigen waren das unvorstellbare, unfassbare Entscheidungen.
Einen historischen Moment habe es gegeben, in dem sich möglicherweise ein Wechsel der Perspektive anbahnte, berichten die Gutachter. Bischof Klaus Hemmerle hatte 1993 unter dem Eindruck seiner Gespräche mit Opfern einen Psychiater in die Personalkonferenz eingeladen. Dieser öffnete den versammelten Klerikern einen neuen Blick auf die zerstörerischen Wirkungen von sexualisierter Gewalt. Dass dieser Impuls keine nachhaltige Wirkung entfaltete, war vielleicht dem frühen Tod des Bischofs geschuldet. Ulrich Wastl erlaubte sich hier die persönliche Kommentierung, dass das aus Sicht der Opfer sehr schade und fatal gewesen sei. Danach sei es lange weitergegangen wie sonst.
Das Gutachten ist hier eindeutig: Aus den Akten und den Zeitzeugen-Gesprächen haben die Anwälte keine Hinweise gewonnen, dass die endlose Geschichte der Vertuschungs- und Versetzungspraxis im Bistum Aachen unter den aktuellen Verantwortlichen eine Fortsetzung gefunden hat. Das gilt sowohl für Generalvikar Andreas Frick, der seit 2015 Leitungsverantwortung trägt, als auch für Bischof Helmut Dieser, der seit 2016 im Amt ist.
Die Gutachter würdigen das hohe Engagement der heutigen Verantwortlichen, den unabhängigen Aufarbeitungsprozess zu unterstützen. So schnell habe man zum Beispiel noch nie Akten erhalten wie vom Bistum Aachen, auf Anfrage und proaktiv.
Und auch in der Sache habe sich manches in die richtige Richtung verändert. Die Kultur der Zuwendung zu Opfern und Angehörigen habe sich im Laufe dieses Jahrzehnts verbessert. Dass seit 2017 Nicht-Priester das pastorale Personal führen, wird von den Gutachtern positiv bewertet. Und auch bei Anlage und Pflege von Akten zögen professionelle Standards ein.
Die Münchener Anwaltskanzlei legt ein bemerkenswert breites Bündel an Empfehlungen vor, wie sich das jahrzehntelang vorherrschende System der organisierten Unverantwortlichkeit überwinden lässt. Trotz aller Fortschritte seit dem Missbrauchsskandal der deutschen Kirche 2010 blieb und bleibt vieles zu tun, im Konkreten und Alltäglichen genauso wie im Allgemeinen, im Recht und in der Kultur. Die Anwälte betonten: Manches davon ist zwar in Rom verankert und nur dort zu verändern, aber es gibt trotzdem viele Handlungsmöglichkeiten in Aachen, die bisher kaum genutzt wurden.
Vordringlich und unverzichtbar nennen die Gutachter ihre Empfehlung, dass sich kirchliche Verantwortungsträger mit Opfern sexualisierter Gewalt treffen und sich ihrem lebenslangen Leid aussetzen. Die Anwälte versprechen sich davon einiges. Zum einen sollen so Zeichen einer demütigen Aufarbeitung gesetzt werden, zum anderen aber auch künftige Entscheidungen neu geprägt sein.
Auch für die Führung von Klerikern soll die Opferperspektive künftig Basis sein, um Risiken für eine weitere Schädigung von Minderjährigen und erwachsenen Schutzbefohlenen zu vermeiden. Ähnlichen Zielen dient die Einrichtung eines finanziell gut ausgestatteten Betroffenenbeirats. Er soll, so die Empfehlung, bei allen wichtigen Entwicklungen in den Bereichen Prävention, Intervention und Aufklärung eine maßgebliche Rolle spielen. Die Stimme der Geschädigten soll Gewicht haben.
Der aufgenommene Pfad der Aufarbeitung von zurückliegenden und aktuellen Beschuldigungen und Taten von Klerikern soll nachhaltig weiter beschritten werden. Die Gutachter empfehlen, die beteiligten Fachkräfte und Partner in ihrer Unabhängigkeit vom Bistum zu stärken. Die Transparenz, die mit der Studie einzieht, sei im Sinne einer regelmäßigen Rechenschaftspflicht gegenüber der Öffentlichkeit weiterzuentwickeln. Es sollen mehr Fachleute als bisher herangezogen werden, um Beschuldigte und Täter hinsichtlich ihres Verhaltens zu begutachten.
Für die rechtliche Verfasstheit und die Optimierung der Verwaltungsabläufe gibt es zahlreiche Empfehlungen im Sinne einer Machtbeschränkung für Kleriker, einer Professionalisierung von Leitung und einer Überprüfbarkeit der Aktenführung. All dieses wird sicher einiges an Diskussionen auslösen. Gewaltige Herausforderungen bestehen auch in der Frage, wie eine Täterfürsorge auch den Schutz von Geschädigten fördern kann, in der Frage des Selbstverständnisses und der Aus- und Fortbildung von Priestern, in der Frage des Zugangs von Frauen zu Leitungsämtern.