Obdach zur Freiheit

Wie die Krefelder Diakonie wohnungslose Frauen im System auffangen möchte

Ungeahnt sind wohnungslose Frauen unter uns. Sie sind als solche oft nicht zu erkennen,  sagen die Experten. (c) www.pixabay.com
Ungeahnt sind wohnungslose Frauen unter uns. Sie sind als solche oft nicht zu erkennen, sagen die Experten.
Datum:
12. Okt. 2021
Von:
Aus der KirchenZeitung, Ausgabe 41/2021 | Ann-Katrin Roscheck

Langsam werden die Tage kürzer, und die Temperaturen auf dem Thermometer sinken. Während viele sich abends in warme Decken auf der weichen Couch kuscheln, kämpfen viele Obdachlose auf den Straßen mit dem harten Beton und den eiskalten Nächten. Immer dann, wenn sich die Sonne langsam hinter den Schornsteinen verzieht, beginnt für sie ein neuer Kampf. 

ls Abteilungsleiter der Wohnungslosenhilfe hat Jan Vander das neue Wohnprojekt für wohnungslose Frauen maßgeblich vorangetrieben. (c) Ann-Katrin Roscheck
ls Abteilungsleiter der Wohnungslosenhilfe hat Jan Vander das neue Wohnprojekt für wohnungslose Frauen maßgeblich vorangetrieben.

Über 2,2 Millionen dieser Obdachlosen besuchen, wenn die Sonne wieder aufgeht, eine der 100 Bahnhofsmissionen in ganz Deutschland, um sich aufzuwärmen und um Hilfe zu bitten. Ein Drittel dieser Hilfesuchenden sind Frauen. Weibliche Wohnungslose werden in Straßenzügen oder Hilfseinrichtungen nur selten gesehen. Das bedeutet jedoch nicht, dass es sie nicht gibt. Frauen, so erklärt Ludger Firneburg als Geschäftsführer der Diakonie Krefeld & Viersen, die auch die Krefelder Bahnhofsmission unterhält, sind – anders als Männer – häufig versteckt wohnungslos. „Sie sehen aus wie unsere Nachbarin oder unsere Kollegin, haben sich aber aus Angst davor, auf der Straße zu landen, in Zwangsbeziehungen begeben“, schildert er. „Sie tauschen quasi die kalte Straße gegen Gewalt und Abhängigkeit.“

 

>>Auch wir müssen die versteckt wohnungslosen Frauen erst finden<<

Jan Vander

 

Aufgrund ihrer unsichtbaren Not gehen diese wohnungslosen Frauen im System unter. Sie sind nicht erfassbar und tauchen kaum in den Statistiken auf. Ihnen zu helfen und sie aus ihrer Situation zu befreien, wird dadurch besonders schwer, erklärt Jan Vander als Abteilungsleiter der Wohnungslosenhilfe der Diakonie Krefeld. „Wir können die Not der Frauen nicht nur nicht sehen, sondern dadurch, dass die Hilfsbedürftigkeit nicht offensichtlich ist, werden auch keine Hilfestellen geschaffen. Weibliche Wohnungslose haben aber ganz andere Bedürfnisse als Männer. Sie brauchen spezielle Angebote.“
Genau an dieser Stelle reagiert die Diakonie Krefeld & Viersen nun.

Ein lang geplantes Wohnprojekt für Frauen, die sich in der Wohnungslosigkeit befinden oder von Obdachlosigkeit bedroht sind, startet in diesen Tagen in der Seidenstadt. In einer extra angemieteten Wohnung finden diese Frauen vorerst in einer Wohngemeinschaft einen sicheren Raum, um sich zu orientieren, und werden von Sozialpädagoginnen in ein selbstständiges Leben begleitet. „Die Biografien unserer Bewohnerinnen sind häufig von Abhängigkeiten und Gewalt geprägt. In unserer komplexen Gesellschaft ist es eine extreme Herausforderung, sich selbstständig aus so einer Notlage herauszuarbeiten“, schildert Vander. „Wir wollen Frauen die Möglichkeit bieten, sich frei zu entwickeln, und unterstützen sie dabei.“

 

Die Unterstützung von Frauen in Notsituationen gehört für Geschäftsführer Ludger Firneburg zum christlichen Selbstverständnis dazu. (c) Ann-Katrin Roscheck
Die Unterstützung von Frauen in Notsituationen gehört für Geschäftsführer Ludger Firneburg zum christlichen Selbstverständnis dazu.

Vorerst schafft die besondere Wohngemeinschaft für vier Frauen in vier separaten Zimmern Platz. Zur Wohnung gehören darüber hinaus Gemeinschaftsräume wie eine kleine Küche und ein Wohnzimmer sowie ein Büro für die zugehörige Sozialarbeiterin. Werden die Personal- und Wohnkosten zukünftig vom Landschaftsverband Rheinland und vom Jobcenter oder dem Sozialamt übernommen, wurde die Einrichtung der Wohnung aus Spendengeldern und aus eigenen Mitteln getragen.

Die Zusammensetzung der Wohngemeinschaft, so schildert Vander weiter, sei dabei eine besondere Herausforderung. Die Diakonie achtet gut darauf, dass Frauen, die eine ähnliche Geschichte teilen, nicht gemeinsam hier untergebracht werden. „Die Frauen sollen sich bereichern, aber untereinander nicht als Verstärker für negative Eigenschaften wirken“, erklärt der junge Mann. „Zwei Frauen mit einem zurückliegenden Drogenkonsum oder auch einem ähnlichen psychiatrischen Krankheitsbild hier zu haben, sehe ich zum Beispiel als problematisch.“

 

>>Christentum ist ohne konkrete und praktische Nächstenliebe nicht denkbar.<<

Ludger Firneburg

 

Um Klientinnen zu finden, arbeitet die Diakonie mit unterschiedlichen Hilfestellen zusammen. Denn auch der Träger steht vor der Herausforderung, wohnungslose Frauen erst einmal als solche zu erkennen. Vander hofft, dass sich mit den Monaten das Angebot unter den Frauen herumspricht und Hilfesuchende auf die Diakonie aufmerksam werden. „Dafür ist aber auch Lobbyarbeit wichtig“, erklärt er. „Wir müssen wohnungslose Frauen in der Presse und in unserem System thematisieren. Auch daran arbeiten wir als Diakonie.“
Eine Bewohnerin für das Wohnprojekt ist bereits gefunden und zieht in diesen Tagen ein.

Die junge Frau kommt über einen Kontakt zur Justizvollzugsanstalt in das Projekt. Menschen, die eine Haftstrafe verbüßt haben, starten in vielen Fällen bei Null. Sie haben keine Wohnung, keine Arbeit und meist nur wenig soziale Kontakte. Bisher gab es für die Frauen in Krefeld und der Region Viersen kein vergleichbares Wohnprojekt, sondern sie waren auf sich alleine gestellt. „Da ist es schnell passiert, dass man sich in alten Mustern wiederfindet und sich der Negativtrend fortsetzt. Vielerorts werden Menschen nach ihrer Haft mit Ablehnung konfrontiert“, erklärt Vander. „Der Weg zu einem Leben mit mehr gesellschaftlicher Teilhabe ist kompliziert und von vielen Rückschlägen geprägt. Wir möchten diesen Frauen Stärke geben.“

Gemeinsam mit einer Sozialarbeiterin der Diakonie bekommt die junge Frau nun Zeit, um an Plänen für einen Neustart zu arbeiten. Sie lernt in sozialpädagogischer Begleitung, Behördengänge erfolgreich zu meistern, bekommt Unterstützung in der beruflichen Orientierung und findet auch bei Alltagssorgen und Nöten einen Ansprechpartner in der Wohngemeinschaft. Merken die Akteure nach rund einem Jahr, dass die junge Frau weit genug ist, um auf eigenen Beinen zu stehen, werden sie mit ihr gemeinsam eine Wohnung suchen. „Auch das ist für wohnungslose Frauen auf dem angespannten Wohnungsmarkt immer wieder eine Herausforderung“, beschreibt es Vander. „Es ist schwierig, einen sozialen Vermieter zu finden, der Menschen trotz einiger Hemmnisse und durchbrochenen Biografien Wohnraum überlässt.“ Denn häufig gibt es Konkurrenten mit besseren Karten.

Auch an dieser Stelle möchten die zuständigen Sozialpädagoginnen zukünftig unterstützen.
Für Ludger Firneburg gehört dieser besondere Einsatz zum Selbstverständnis der Diakonie als christlicher Träger dazu. Bereits seit den 70er Jahren bietet die Diakonie in Krefeld Wohnungslosenhilfe an. Dass die Diakonie nun neben der Bahnhofsmission, der Beratungsstelle für Wohnnotfälle oder der Schuldnerberatung mit der besonderen Wohngemeinschaft auch speziell ein Angebot für wohnungslose Frauen macht, ist für ihn eine Herzensangelegenheit. „Christentum ist ohne konkrete und praktische Nächstenliebe nicht denkbar. Die Unterstützung von Menschen, die benachteiligt sind, die Ausgrenzung, Gewalt und Not erfahren oder durch die Netze sozialer Hilfesysteme fallen, ist ein Grundpfeiler des christlichen Selbstverständnisses“, sagt er nachdrücklich. „Deshalb ist es für die Diakonie selbstverständlich, gerade den Frauen, die ihre Notlage häufig sogar verbergen wollen oder müssen, zu helfen, ein würdevolles und möglichst sicheres Leben zu führen.“

Sowohl Ludger Firneburg als auch Jan Vander wünschen sich, dass sich dieser Idee zukünftig noch weitere Träger und Einrichtungen, aber auch die Politik anschließen und weitere Angebote ausschließlich für wohnungslose Frauen entstehen. „Nur weil wir sie nicht sehen“, schließt Ludger Firneburg ab, „bedeutet es eben nicht, dass die Not nicht da ist.“